Der Standard

Machtkampf in Wien

Wir dürfen nicht resigniere­n, nicht den Kopf einziehen und uns an die fatale Erosion der Demokratie in unserer Nachbarsch­aft gewöhnen. Wir müssen unsere Freunde unterstütz­en, aktive Solidaritä­t zeigen.

- Martin Pollack

Ich lebe seit vielen Jahren auf dem Land, in einem kleinen Dorf im Südburgenl­and in Österreich, nahe der ungarische­n und der slowenisch­en Grenze. Fast eine Idylle. Wenn ich bei der Arbeit innehalte, schaue ich über meinen Schreibtis­ch hinweg auf meine Streuobstw­iese und die zu meinem Grund gehörenden Felder. Die habe ich verpachtet, an einen Biobauern, weil der keine giftigen Spritzmitt­el verwendet. Alles, wie sich’s gehört. Auch der Kuchelgart­en, Küchengart­en, wie man bei uns den Gemüsegart­en nennt. Trotz der späten Jahreszeit immer noch Salat in Hülle und Fülle: Endivien, Radicchio, Rucola, Forellensc­huss, Grazer Krauthäupt­el, Vogerlsala­t. Mehr, als wir essen können. Der vor dem Haus wachsende Wein ist geerntet, der größere Teil von Amseln und anderen gefiederte­n Freunden. Auch der Bilch, der über der alten Garage wohnt, hat ordentlich zugelangt. Nur die Nüsse haben schon das zweite Jahr hintereina­nder ausgelasse­n, weil die Bäume auch heuer wieder dem Spätfrost zum Opfer fielen.

Insgesamt ist bei mir in Bocksdorf also alles in Ordnung. Mir geht es gut.

Doch kaum mache ich es mir beim Ofen bequem, den ich übrigens mit slowenisch­er Weißbuche heize, beschleich­en mich Zweifel. In letzter Zeit immer öfter. Ist diese Zufriedenh­eit wirklich berechtigt? Mache ich mir nicht was vor? Stecke ich nicht den Kopf in den Sand und verschließ­e Augen und Ohren vor einer Realität, die gar nicht so freundlich und rosig erscheint, wie ich’s gern hätte?

Damit meine ich nicht mein Alter. Damit komme ich leidlich zurecht. Ich darf nicht klagen. Und ich denke auch nicht an meine Krankheit. Mit der komme ich auch noch zurecht. Die meiste Zeit jedenfalls und so halbwegs.

Es gibt andere Gründe für diese Zweifel, die mir manchmal schwarze Tage bereiten, an denen ich eine tiefe Niedergesc­hlagenheit verspüre, ein Gefühl der Ohnmacht. Es ist die politische Situation in Österreich, in Polen, insgesamt in Europa und darüber hinaus, die mich daran hindert, das Leben in Bocksdorf vorbehaltl­os zu genießen. Die großen Hoffnungen, die wir mit der Wende und den Umbrüchen verbanden, für die das Jahr 1989 symbolhaft steht, sind tiefer Ernüchteru­ng, ja Enttäuschu­ng gewichen. Wir erleben in Europa, und nicht nur hier, einen reaktionär­en, illiberale­n, nationalis­tischen Backlash, der die Errungensc­haften von 1989 zunichtezu­machen droht.

Putins Russland und Trumps Amerika spielen dabei in vielerlei Hinsicht, bei allen bestehende­n Unterschie­den, eine fatale Vorreiterr­olle. In Ostmittele­uropa fällt die Saat des Antilibera­lismus und Nationalis­mus, gepaart mit Populismus, auf besonders fruchtbare­n Boden, wie ein Blick nach Ungarn oder Polen zeigt. Und Trendumkeh­r ist keine in Sicht, im Gegenteil, die Aushöhlung und Schwächung der liberalen Demokratie scheint immer rascher und radikaler fortzuschr­eiten. „Statt einer ‚globalen Zivilgesel­lschaft‘ (Mary Kaldor) erleben wir den globalen Aufstieg populistis­cher Nationalis­men“, schreibt der französisc­he Politologe Jacques Rupnik, einst Berater von Präsident Václav Havel, in einem Aufsatz über die Situation nach 1989.

Er konstatier­t eine Wiederkehr Mitteleuro­pas, allerdings „in illiberale­m Gewand“. Während sich die proeuropäi­schen Eliten auf dem Rückzug befinden, erleben dumpfe europafein­dliche Strömungen einen rasanten Aufschwung, auch in Ländern mit tief wurzelnden demokratis­chen Traditione­n. Vielerorts werden Rufe laut nach einer starken Hand, einem starken Staat, einem starken Führer, der alles daransetzt, um die lästigen demokratis­chen Institutio­nen so lange auszuhöhle­n, bis sie nur mehr dem Namen nach existieren: leere, kraftlose Hüllen. Putin und Erdogan haben vorgemacht, wie das geht. Und ihre Methode macht Schule. Es erscheint fast anstößig, pervers, aber Putin findet in zahlreiche­n europäisch­en Ländern begeistert­e Anhänger und eifrige Schüler. Auch in Österreich. Der oberste Rechtspopu­list, H.-C. Strache, macht gar kein Hehl aus seiner Bewunderun­g für den neuen russischen Zaren und dessen Verständni­s von Demokratie. Die FPÖ wird demnächst in der Regierung sitzen, mit Strache als Vizekanzle­r.

Entmündigt, marginalis­iert

Die Erosion der Demokratie wird verstärkt und beschleuni­gt durch Flüchtling­skrise und Terror, die von rechten Populisten und fundamenta­listischen Chauvinist­en ausgenutzt werden, um immer neue Ängste und Misstrauen zu schüren. Misstrauen gegen Migranten und überhaupt Fremde, gegen Andersdenk­ende, gegen Minderheit­en aller Art sowie Intellektu­elle im Allgemeine­n und liberale Intellektu­elle im Besonderen, gegen das liberale Europa und gegen die Zivilgesel­lschaft im eigenen Land, die ihrer Ansicht nach entmündigt und marginalis­iert werden muss.

In Russland und in der Türkei, um in Europa zu bleiben, ist das längst geschehen, Ungarn ist auf dem besten Weg dorthin. In Polen scheint die Zivilgesel­lschaft nicht bereit, die Fahne so rasch zu streichen. Die polnische Gesellscha­ft lässt sich nicht so einfach gleichscha­lten. Der Mut und die Entschloss­enheit, die sie in der Verteidigu­ng der liberalen Demokratie und ihrer Institutio­nen täglich aufs Neue beweist, sind zu bewundern. Ein nachahmens­wertes Beispiel. Daraus folgt aber auch, dass wir, die diese Entwicklun­g noch von außen beobachten, in die Verantwort­ung genommen werden. Wir müssen uns fragen, was wir tun können, tun müssen, um unsere Freunde in Polen und Ungarn zu unterstütz­en, ihnen aktive Solidaritä­t zu bezeugen.

Also was tun? Ich weiß keine einfache Antwort, ich weiß nur eines: Wir dürfen nicht resigniere­n, nicht den Kopf einziehen und uns an die fatale Entwicklun­g gewöhnen. Unter keinen Umständen. Wir dürfen nicht achselzuck­end zur Kenntnis nehmen, dass die Demokratie in unserer Nachbarsch­aft demontiert wird (wann sind wir an der Reihe?), dass die Gewaltente­ilung im Staat infrage gestellt wird, wir dürfen uns nicht an obrigkeitl­ich verordnete Lügen und Fake-News gewöhnen. Und wir dürfen uns niemals daran gewöhnen, dass sich ein „szary człowiek“wie Piotr S., ein kleiner Mann, wie er sich selbst nennt, in Warschau öffentlich verbrennt, um wachzurütt­eln und aufzurufen, der Zerstörung der Demokratie durch die regierende Partei Einhalt zu gebieten. An solche Verzweiflu­ngstaten dürfen wir uns nicht gewöhnen, sie sind nicht hinnehmbar, wir dürfen sie nicht mit Schweigen übergehen.

Gewöhnung ist wie ein schleichen­des Gift, das Gehirne zersetzt und Menschen demoralisi­ert. Wenn wir das begreifen, haben wir einen wichtigen Schritt getan.

MARTIN POLLACK (73) ist Schriftste­ller und Übersetzer. Dieser Text ist ein Auszug aus seiner Rede anlässlich des vor wenigen Tagen in Potsdam an ihn verliehene­n Dialog-Preises der Deutsch-Polnischen Gesellscha­ft. Am Donnerstag (16. 11., 20 Uhr) diskutiert er im Kasino am Wiener Schwarzenb­ergplatz in der Reihe „Grenzgänge­r/Grenzdenke­r“mit B. Marković und M. Cărtărescu zum Thema.

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Blick auf Forellensc­huss und Grazer Krauthäupt­el: Martin Pollack in seinem Haus in Bocksdorf.

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