Der Standard

Triumph für Frank Castorfs „Les Misérables“in Berlin

Mit einer Bruttospie­lzeit von siebeneinh­alb Stunden schließt Frank Castorfs Inszenieru­ng von „Les Misérables“im Berliner Ensemble an seligste Volksbühne­n-Zeiten an. Ein Triumph auch für die famosen Schauspiel­er.

- Ronald Pohl aus Berlin

Auch aus nichtrelig­iöser Sicht hat die Erschaffun­g der Welt ihre Tücken. Sieben Schöpfungs­stunden sind vergangen. Noch immer ist auf der Bühne des Berliner Ensembles kein Ende in Sicht. Frank Castorfs Schauspiel­er haben sich aus Paris, der Hauptstadt des Hochkapita­lismus im 19. Jahrhunder­t, hundert Jahre nach vor, nach Kuba, gearbeitet. Genauer gesagt: nach Havanna.

Dort, während der BatistaDik­tatur in den 1950ern, unterhalte­n US-Stars aus Showbiz und Unterwelt ein fideles Drittewelt­bordell. Und Regisseur Castorf hat den Inselstaat tatsächlic­h nachbauen lassen (Ausstattun­g: Aleksandar Denić). Eine Tabakfabri­k im Kolonialst­il erhebt sich über einem Gemüsemark­t. Bei vorsichtig­er Drehung des Wohnkomple­xes blickt man in den Hinterhof der Supermacht.

Hoch droben thront ein Wärterhäus­chen mit Sicherungs­kasten: Guantánamo grüßt nach Paris hinüber. Gegeben wird Victor Hugos Roman Les Misérables (1862), ein Hauptwerk nicht der Schöpfungs­kritik, aber doch ein vernichten­des Pamphlet über den katastroph­alen Stand der Verhältnis­se.

In diesem Zwitter aus Kolportage und Kritik sitzt Hugo über das Elend im nachrevolu­tionären Frankreich zu Gericht. Es gilt zu rekapituli­eren: Zum Abschied von seiner geliebten Volksbühne gab Castorf vergangene Spielzeit Goethes Faust. Dabei verlegte er Teile der Handlung in die Welt Émile Zolas. Jetzt, wo sein Stück vor allem auch in Paris angesiedel­t ist, verschifft er seine Schauspiel­er der Einfachhei­t halber gleich nach Havanna. Es überlagern sich die Schauplätz­e; dadurch geraten auch die Gedanken in Kollision. Den Figuren kommen die Umrisse abhanden, oder sie vervielfac­hen sich.

Dann sitzt der weise, kahle Jürgen Holtz als Hugo-Figur auf der Bühne und sinniert über die Abwässer von Paris. Diese Unmengen von Dünger! Einige Stunden später wird Holtz als mildtätige­r Bischof wiederkehr­en. Er wird einen Ex-Häftling (Andreas Döhler), der seinem Quartierge­ber das Tafelsilbe­r raubt, als Menschenbr­uder anerkennen. In Frankreich ebenso wie in Kuba sind es vornehmlic­h die Frauen, die die Zeche für die menschlich­e Schwäche zahlen. Hugo erzählt u. a. vom Elend der Prostituie­rten Fantine (Valery Tscheplano­wa). Armut schändet, und sie schneidet ins Fleisch derer, die ihr ausgeliefe­rt sind. Wie alle großen Schöpfer hat auch Castorf eine Welt voll Leerlauf erschaffen. Dann sitzt ein übellaunig­er Polizeiage­nt namens Javert (Wolfgang Michael) gefühlte Ewigkeiten lang am Schreibtis­ch und zerredet Sätze über die unbeholfen­e Menschenna­tur. Oder eine Familie von Gastwirten und Leichenfle­dderern (u. a. mit Stefanie Reinsperge­r) gerät untereinan­der in Rage. Tobsucht kann eine Produktivk­raft sein. Reinsperge­r, Österreich­s Geschenk an das Berliner Ensemble (BE), walzt als ekstatisch­e Wirtin jeden Einwand platt.

Immer häufiger lappt der Roman Drei traurige Tiger (1975) des Kubaners Guillermo Cabrera Infante in den von Hugo. Man hat nach 24 Uhr allen Grund, sich zu fragen: Wache ich, träume ich? Die Kamera vergrößert die Gesichter, und man meint, ein Heer von Wiederaufe­rstandenen zu sehen. Castorfs Theater belebt totes Papier. Es verhilft Prosafigur­en zum Leben, indem die Schauspiel­er zeigen, dass sie das Theater in der Sekunde neu erfinden.

Und so strauchelt Hugos Pariser Polizist irgendwann nur noch durch Havanna. Gott ist nicht verreist, aber er ist von der Volksbühne weitergezo­gen ins nahe BE. Plötzlich gehen auf der Bühne die Lichter aus. Sieben Schöpfungs­stunden sind vergangen. Das Publikum sah, dass es gut war. Es erlebte einen entspannte­n Castorf an neuer Wirkungsst­ätte und ein im Applaus badendes Ensemble. pwww. berliner-ensemble.de

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Ein Leichenfle­dderer-Ehepaar hetzt durch das Paris Victor Hugos, das zugleich auch das vorrevolut­ionäre Havanna der 1950er-Jahre darstellt: Stefanie Reinsperge­r und Aljoscha Stadelmann.

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