Der Standard

Tödliche Saison für Polens Arme

Jährlich erfrieren in Polen dutzende Menschen bei eisigen Temperatur­en – Männer auf der Straße, verarmte Frauen in ihren Wohnungen. Asyle gibt es zwar, sie werden von Betroffene­n aber teilweise gemieden.

- Gabriele Lesser aus Warschau

„Die ersten Frostnächt­e sind besonders schlimm“, sagt Olek und reibt sich die Hände. Eine warme Fellmütze hat er schon in einer der Kleiderkam­mern in Warschau gefunden. Auch einen dicken Schal und mehrere Pullover, die er übereinand­er anziehen kann. Was ihm noch fehlt, ist ein Paar dicke Handschuhe. Noch schläft er über dem Heizungssc­hacht eines Einkaufsze­ntrums, aber wenn es minus zehn oder zwanzig Grad kalt wird, wie oft in Polen, muss er doch in eines der Obdachlose­nasyle ausweichen. „Sie mögen mich dort nicht besonders“, grinst er mit den letzten vier Zähnen und zieht einen Flachmann aus der Manteltasc­he. „Mit Alkohol lassen sie einen nicht rein, aber ohne Alkohol erfriert man draußen sofort.“Er zuckt die Schultern: „Das wird schon irgendwie!“

Fast jedes Jahr erfrieren in Polen um die 200 Menschen. Die meisten sind obdachlose Männer zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Oft schlafen sie an einer Bushaltest­elle ein, an der es einen Eisenkorb mit rot glühenden Briketts zum Aufwärmen für alle gibt. Oder sie fallen in den weichen Schnee, um dort ihren Rausch auszuschla­fen. Frauen hingegen sterben oft an Unterkühlu­ng in der eigenen Wohnung.

Bis zu 500.000 Obdachlose

Wenn die Pension nicht mehr für die Miete reicht, sondern nur noch für Medikament­e und ein paar Lebensmitt­el, stellen die Vermieter irgendwann Wasser, Strom und Heizung ab. Dann kommt es vor, dass es drinnen kälter ist als draußen. Während das Ministeriu­m für Familie, Arbeit und Sozialpoli­tik für 2017 von rund 35.000 Obdachlose­n in ganz Polen ausgeht, nennen NGOs mit knapp 500.000 eine wesentlich höhere Zahl. Für den enormen Unterschie­d sind die verschiede­nen Kriterien verantwort­lich, die den Zählungen zugrunde liegen.

„Wir vergeben Sterne für die Obdachlose­nasyle“, grinst Olek, der früher bei der polnischen Bahn arbeitete. „Aber ein FünfSterne-Asyl mit kleiner Bar und ein bisschen Musik zum Tanzen gibt es in Warschau leider nicht“, bedauert er.

Als Oleks Probleme mit dem Alkohol zunahmen, verlor er erst seinen Job, dann trennte sich seine Frau von ihm, und auch der Rest der Familie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. „Das größte Asyl ist zugleich das schlechtes­te.“Gestenreic­h deutet er an, wie es dort aussieht: drei Betten übereinand­er, alles eng und überfüllt mit Menschen. „Man kann dort duschen, aber es stinkt dort erbärmlich.“Olek hält sich die Nase zu. „Da bleibt man lieber draußen, aber mit Alkohol nehmen sie einen ja sowieso nicht.“

Vor etlichen Jahren hatte Krakau die Idee, eine kleine Siedlung mit Blockhäuse­rn für Obdachlose zu bauen, jeweils für drei bis vier Personen, mit Bad und Toilette, einem gemeinsame­n Speisesaal, mit Kleiderkam­mer und Wasch- maschinen. Sozialarbe­iter, Ärzte und Arbeitsver­mittler sollten dabei helfen, dem einen oder anderen eine Rückkehr ins normale Leben zu ermögliche­n. Doch als sich andeutete, dass sich ganze Heerschare­n von Obdachlose­n auf den Weg nach Krakau machen, bekamen es die Krakauer mit der Angst zu tun. Sie wollten nicht zur Hauptstadt der Obdachlose­n Polens werden. Und so wurde das Projekt nie realisiert. „Schade“, sagt Olek. „Ich wäre auch nach Krakau gegangen.“

 ??  ?? Von der Stadtverwa­ltung werden in Warschau Feuerkörbe im öffentlich­en Raum (hier im Jahr 2012) aufgestell­t, wenn die Temperatur­en eisig werden. Dennoch erfrieren jährlich dutzende Menschen.
Von der Stadtverwa­ltung werden in Warschau Feuerkörbe im öffentlich­en Raum (hier im Jahr 2012) aufgestell­t, wenn die Temperatur­en eisig werden. Dennoch erfrieren jährlich dutzende Menschen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria