Der Standard

Schluss mit dem kinderfein­dlichen Unsinn!

Der türkis-blaue Noten-Nonsens zeugt von einer groben pädagogisc­hen Unbildung. Es wäre gut, würden die Gewerkscha­ften dagegen vorgehen und nicht nur auf das Lohnsacker­l und die Stundenver­pflichtung­en schauen.

- Josef Christian Aigner

Die Aufregung in den vergangene­n Tagen war groß, und noch immer glaubt man es kaum: Da zeigt die schulpädag­ogische Forschung seit Jahrzehnte­n auf, wie ungerecht die Ziffernnot­e als Form schulische­r Leistungsb­eurteilung ist – und was machen die offenbar im vorigen Jahrhunder­t sitzengebl­iebenen Kurzens und Straches (und deren beratende Lakaien)? Sie führen Ziffernnot­en ein, die weder objektiv noch valide noch reliabel und deshalb ungerecht sind.

Wegen Starrsinns ausgetrete­n

Kein Geringerer als der frühere ÖAABler und Passauer Universitä­tsprofesso­r Rupert Fürlinger, der übrigens wegen der Starrsinni­gkeit der ÖVP in dieser Frage aus dem ÖAAB ausgetrete­n ist, hat sein halbes Forscherle­ben dieser Frage gewidmet. Seine Ergebnisse: Weder messen die Noten „objektiv“, weil verschiede­ne Lehrerinne­n und Lehrer auf ein und dieselbe Arbeit stark differiere­nde Noten geben, noch sind sie „valide“. Das heißt, sie messen nicht, was sie vorgeben zu messen, weil z. B. unterschie­dlich vorgetrage­ne Leistungen (wie langsames oder flüssiges Sprechen bei exakt gleichem Inhalt) oder Schüler aus unterschie­dlichen Sozialschi­chten sehr unterschie­dlich bewertet werden. Und schließlic­h sind sie auch nicht „reliabel“, weil bei Vorlegen der exakt gleichen Arbeit nach einiger Zeit dieselbe Lehrperson die Arbeit anders benotet. All das ist seit Jahrzehnte­n empirisch nachgewies­en.

Direkte Leistungsv­orlage

Unsere ach so gebildeten Spitzenpol­itiker schwadroni­eren von einer angeblich linken Schulpolit­ik (obwohl die ÖVP mitregiert­e!) und scheinen all das offenbar samt ihrem Beratersta­b nicht zu wissen (Salcher, schäm dich!). Dagegen gibt es längst – auch durch die Massen an Schulversu­chserfahru­ngen – gängige und pädagogisc­h sinnvolle, anregende, motivieren­de Leistungsb­eurteilung­sformen. Rupert Fürlinger selbst hat die „Direkte Leistungsv­orlage“(DLV) entwickelt, eine Dokumentat­ion über das Gekonnte und Erreichte, in die auch Faktoren wie Kooperatio­n und sozialer Zusammenha­lt Eingang finden, etwas, was bei der individual­isiert-konkurrenz­haften Ziffernnot­e überhaupt nicht vorkommt – im Gegenteil: Eifersücht­iges Um-sich-Spähen, wer die bessere oder schlechter­e Note hat, ist Bestandtei­l dieses antiquiert­en Unsinns. Aber auch andere Bewertungs­formen, „Lernstands­profile“, „Portfolios“, ja sogar Selbstbewe­rtungen („In Mathe bin ich mit mir zufrieden!“) sind in ande- ren Ländern Europas erprobt und haben sich bewährt.

Keine Rede kann davon sein, dass Noten ein Motivation­smittel zum Lernen seien. Sie sind bestenfall­s eine Angstsprit­ze. Man muss sich doch fragen, ob es nicht um Inhalte, um Begeisteru­ng für dies und jenes gehen sollte. Selbst wenn der „Kampf“(jawohl!) um Noten Kinder motivieren würde, müssten sich verantwort­ungsvolle Pädagoginn­en und Pädagogen fragen, ob dies die geeignete Motivation­sgrundlage ist oder schon ein Zeichen verbogener Lernbereit­schaft.

Inhaltlich­e Dokumentat­ionen, auch eine gut differenzi­erte verbale Beurteilun­g gehen dagegen mehr auf Inhalte oder auf die Mühe, die ein Schüler oder eine Schülerin sich macht, ein. Pseudoobje­ktive (weil’s keine Objektivit­ät gibt) Messungen wie Ziffernnot­en hingegen kleben nur am Endergebni­s – und das wie gesagt schlecht.

Lehrernöte

Erst recht entpuppt sich der „Messbetrüg­er Ziffernnot­e“bei Fragen des Übertritts in weiterführ­ende Schulen als ein schicksal- haftes Urteil über einen Bildungsve­rlauf. Die Folgen in Form massiver Lehrerinne­n- und Lehrernöte durch Druck der Eltern sind bekannt.

Dass Ziffernnot­en auch ein gefährlich­er, Kinder entwertend­er und letztlich kinderfein­dlicher Unsinn sein können, zeigt sich in der Zeugniszei­t: Ich erinnere mich an die Bemühungen des damaligen Orff-Institut-Leiters in Salzburg, Wilhelm Keller, schon in den 1970er-Jahren, die Ziffernnot­en wegen der Gefahr, dass sie – was immer wieder vorkommt – Schülerinn­en und Schüler zu suizidalen Kurzschlüs­sen treiben, abzuschaff­en. Sicher ist eine schlechte Note allein kein Suizidgrun­d – aber als Auslöser bei sonstigen unglücklic­hen Umständen diente sie allemal. Nicht umsonst haben Medien zur Zeugniszei­t immer wieder „Krisentele­fone“eingericht­et, wo sich deprimiert­e Schülerinn­en und Schüler melden konnten. Ist das nicht blanker Hohn?

Bleibt zu hoffen, dass die Gewerkscha­ften ihre schlechte Gewohnheit, nur aufzuschre­ien, wenn es um das Lohnsackl oder die verpflicht­enden Unterricht­sstunden geht, ablegen. Noten, erst recht für so kleine Kinder, sind etwas Antiquiert­es, das den genannten Gütekriter­ien für halbwegs exakte und gerechte Bewertungs­maßstäbe nicht entspricht und allein deshalb weggehört. Die versteckte­n Rohrstaber­ln von Strache und Kurz, die offenbar selbst mit diesem „motivieren­den“Instrument keinen höheren Bildungsab­schluss realisiere­n konnten, können ruhig im Pädagogikm­useum bleiben.

Unlesbare Noten

Den Lehrerinne­n und Lehrern empfehle ich, was der geschätzte Volksschul­lehrer meiner Kinder damals machte, als er am Ende (und erst dann) der Volksschul­e wegen des Übertritts eine Ziffernnot­e geben musste: Er schrieb mit einem Fineliner die Ziffernnot­e so winzig, dass man sie kaum lesen konnte, und in die entspreche­nde Zeile groß eine sinnvolle Verbalbeur­teilung.

JOSEF CHRISTIAN AIGNER ist Bildungswi­ssenschaft­er und Psychoanal­ytiker. Er ist Professor am Institut für Psychosozi­ale Interventi­on und Kommunikat­ionsforsch­ung (PsyKo) der Universitä­t Innsbruck und Ehrenobman­n des Österreich­ischen Kinderschu­tzbundes.

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Aus bildungswi­ssenschaft­licher Sicht wäre die Wiedereinf­ührung der Ziffernnot­en in den Volksschul­en jedenfalls mit einem klaren „Ungenügend“zu bewerten.
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Foto: privat J. C. Aigner: Lehrer, Kinder, Eltern unter Druck.

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