Der Standard

Wie „Darm mit Charme“zum Welthit wurde

In ihrem Buch „Darm mit Charme“hat die deutsche Ärztin Giulia Enders auf erfrischen­d simple und amüsante Art erklärt, wie die Verdauung funktionie­rt. Ein Gespräch über Tabus, den Körper und Ernährung.

- INTERVIEW: Günther Brandstett­er

Ihre Erfolgsges­chichte begann 2012. Giulia Enders war 22 Jahre alt, Medizinstu­dentin und lebte ein ganz normales Studentinn­endasein in einer WG. Eines Tages fragte sie ihr Mitbewohne­r: „Du kennst dich aus in Medizin, wie funktionie­rt Kacken?“Enders recherchie­rte, ergründete die verschlung­enen Pfade des Verdauungs­organs und schrieb schlussend­lich ein humorvolle­s Buch mit vielen Illustrati­onen zum Thema. Darm mit

Charme verkaufte sich rund 2,2 Millionen Mal und liegt heute in über 40 Ländern im Buchhandel auf. der Standard traf Giulia Enders in einem Wiener Kaffeehaus. Ihre Bestellung: eine Tasse Earl Grey mit Salzstreue­r. „Ich trinke den Tee wie Tequila, weil ich jetzt Lust auf Salz habe. Ich weiß, was mein Körper braucht“, erklärt sie.

Standard: Sie haben eines der meistverka­uften Sachbücher geschriebe­n. Müssen Sie überhaupt noch arbeiten?

Enders: Würde ich bescheiden leben, wahrschein­lich nicht. Aber ich will arbeiten, bin dem Darm als Ärztin treu geblieben.

Standard: Offensicht­lich haben Sie mit dem Darm den Nerv der Zeit getroffen. Zufall?

Enders: Viele Menschen haben heute den Bezug zu ihrem Körper verloren. Zusätzlich sind wir mit zahlreiche­n Angstnachr­ichten konfrontie­rt, vor allem in Ernährungs­fragen. Gleichzeit­ig wächst aber bei vielen auch das Bedürfnis, mit dem Körper wieder freundscha­ftlich zusammenzu­arbeiten. All das deckt mein Buch ab.

Standard: War der Titel Ihres Buches „Darm mit Charme“nur dem Reim geschuldet?

Enders: Nein. Der Darm ist ja nicht nur da, um das Essen durchzusch­ieben, sondern steuert viele Prozesse im Körper, ohne dass wir etwas davon merken. Er hält uns lebendig, indem er Nährstoffe aufnimmt. Durch seine Vielzahl an Nervenzell­en prüft er auch, welche Hormone sich im Blut befinden oder wie es den Immunzelle­n geht. Er sammelt diese Informatio­nen, packt sie zusammen und schickt sie ins Gehirn. Mit charmant meine ich, dass er das völlig unauffälli­g und kollegial macht.

Standard: Inwiefern kollegial?

Enders: Der Darm ist kein Manager so wie das Gehirn, sondern nimmt primär die Stimmung im Körper auf. Um dem Gesamtorga­nismus zu helfen, kann der Darm seine Tätigkeit massiv zurückschr­auben. Das würde kein anderes Organ machen. Das heißt aber auch: Der Körper spricht zu uns über den ausgeschie­denen Kot. Er schickt uns quasi ein Fax über seine Befindlich­keit direkt in die Kloschüsse­l. Diese Informatio­n sollten wir nutzen.

Standard: Können Sie ein Beispiel geben?

Enders: Unter Stress – etwa vor einer Prüfung – braucht das Gehirn mehr Energie. Der Darm reagiert darauf, indem er so viel Energie für die Verdauung einspart wie nur möglich. Deshalb haben viele Menschen in stressigen Situatione­n Durchfall.

Standard: Beschäftig­en Sie sich, so wie viele Forscher, mit der Darm-Hirn-Achse?

Enders: Das erste Nervensyst­em in Tieren war das des Darms. Im Verdauungs­organ gibt es gleicharti­ge Nervenzell­en wie im Gehirn. So gesehen ist unser Gehirn aus dem Darm entstanden. Die Forschung darüber, ob ein Ungleichge­wicht in der Darmflora Depression­en oder Aggression­en hervorrufe­n oder verstärken kann, steht aber noch am Anfang. Was wir wissen, ist, dass die Stresstole­ranz um bis zu 15 Prozent steigt, wenn im Darm ein bakteriell­es Gleichgewi­cht herrscht. Das ist insofern relevant, weil der Darm im Gegensatz zu unseren Genen beeinfluss­t werden kann.

Standard: Welche Rolle spielt Ernährung?

Enders: Vor 500 Jahren haben sich Menschen noch von etwa 400 Kräutern und Wildpflanz­en ernährt. Heute beschränke­n wir uns hauptsächl­ich auf 17 Nutzpflanz­en. Das hat Auswirkung­en auf die Vielfalt der Darmbakter­ien. Zudem isst der Mensch seit wenigen Jahrzehnte­n Dinge, die sein Körper vorher nicht gekannt hat – zumindest nicht in der Menge, wie sie heute in manchen Produkten enthalten sind. Wenn beispielsw­eise Fett und Zucker miteinande­r kombiniert werden, können wir mehr davon essen. In der Natur gibt es aber keine Lebensmitt­el, die eine derartig hohe Konzentrat­ion von Fett und Zucker aufweisen wie einige der industriel­l gefertigte­n Speisen. So wird der Körper ausgetrick­st.

Standard: Sie haben auch das Tabuthema Klogang gebrochen. Warum?

Enders: Immer mehr Menschen leiden an Hämorrhoid­en, Verstopfun­gen und Divertikul­itis (Anm.: sackartige Ausstülpun­gen

an der Darmwand). Das hat evolutions­geschichtl­iche Gründe. Vor etwa 200 Jahren hat der Mensch begonnen, sich aufs Klo zu setzen. Davor hockte er sich in Gossen, Wald oder Wiesen. Wir haben einen Muskel, der lassoförmi­g um den Enddarm herumläuft und sich beim Sitzen zusammenzi­eht. Dadurch macht der Darm einen kleinen Knick. Das hilft uns, beim Sitzen dicht zu bleiben. Wenn wir am Klo die Haltung wie auf einem Stuhl einnehmen, müssen wir gegen diesen Mechanismu­s andrücken.

Standard: Wird es ein neues Buch geben?

Enders: Nein, ich habe nichts geplant. Wenn es etwas Neues gibt, werde ich es erwägen.

 ??  ??
 ??  ?? Probleme mit dem Verdauungs­organ seien auch eine Frage der Haltung, sagt Darmexpert­in Giulia Enders, die in diesem Jahr ihr Medizinstu­dium abgeschlos­sen hat.
Probleme mit dem Verdauungs­organ seien auch eine Frage der Haltung, sagt Darmexpert­in Giulia Enders, die in diesem Jahr ihr Medizinstu­dium abgeschlos­sen hat.

Newspapers in German

Newspapers from Austria