Der Standard

Küsschen in der Manege der Obsessione­n

Alban Bergs „Lulu“an der Wiener Staatsoper: Regisseur Willy Decker ergänzt seine elegante Inszenieru­ng der zweiaktige­n Fassung aus dem Jahr 2000 um den dritten, von Friedrich Cerha vollendete­n Akt.

- Ljubiša Tošić

Wien– Lulus erster Operngatte, der honorige Medizinalr­at, kommt zum Sterben von der Tribüne herab: Er wird über eine Mauer von Düstermänn­ern in Schwarz herabgelas­sen. Nach seinem Zornesausb­ruch findet der Medizinalr­at schließlic­h auf dem perplexen Herrn Maler liegend sein Ende.

Lulus Gunst gilt nunmehr dem Pinselküns­tler (prägnant: Jörg Schneider). Bevor jedoch auch dieser von der Erkenntnis dahingeraf­ft wird, in Lulus Gefühlshar­em keine besondere Rolle gespielt zu haben, dauert es. Vorerst zelebriert Lulu den Abschied vom Erstgatten (Konrad Huber). Sie gönnt sich – über und auf dem Toten – ein kleines Tänzchen.

Das alles hat Willy Decker smart inszeniert – es ist bekannt seit dem Jahr 2000: Damals ließ der deutsche Regisseur in der Wiener Staatsoper eine Premierenm­anege als Todeszone für an Lulu sich festkralle­nde Herren der Erschöpfun­g entwerfen (Ausstattun­g: Wolfgang Gussmann). Das war während der Chefzeit von Ioan Holender. Nun ergänzte Decker seine damalige Version der zweiaktige­n Fassung von Alban Bergs Lulu um den – von Komponist Friedrich Cerha vollendete­n – dritten Akt. Auch dieser war vor Jahren schon (in Paris) zu sehen.

Wie immer das jetzt zu nennen ist – die Zusammenfü­hrung von Deckers historisch­en Wiener und Pariser Ideen ergibt zeitlosen Sinn. Die Inszenieru­ng ist nach wie vor eine elegante, ohne plakative Drastik sich zum Finale hin fortspinne­nde Meditation über ein geheimnisv­olles Wesen, an dem die Männerwelt im Einzelfall zugrunde geht, um es schließlic­h als Kollektiv zu vernichten.

Agneta Eichenholz braucht ein wenig, um stimmlich Präsenz zu erlangen. Sie wächst jedoch zum tatsächlic­hen Zentrum der Aufführung heran. Als Projektion­sfläche des Begehrens wird ihre Lulu in einer Art Gegenwehr zur verspielte­n Manipulato­rin, in deren Anschmiegs­amkeit kühle Berechnung schlummert.

Authentisc­h scheint die Begegnung mit dem greisen Schigolch (berührend: Franz Grundheber). Echt wirkt Lulus Freude am Untergang ihrer Verehrer: Wenn sie auf dem Klavier liegend Alwa, den Sohn von Doktor Schön (intensiv: Herbert Lippert), mit der Erinnerung an den Tod seines Vaters demütigt, scheint Lulu bei sich. Das Verglühen ihrer Opfer wird ihr zum Genuss. Der Rest ist geheimnisv­olle Berechnung.

In Extremszen­en ist Eichenholz von virtuoser Ausgelasse­nheit. Auch verleiht sie dem Siechtum und dem nahenden Ende dieser Lulu vokale Größe, indem sie Poesie und Unmittelba­rkeit vereint. Ihre Stimme strahlt eine Klarheit aus, die auch in höheren Lagen die Gipfelpunk­te des Expressive­n „vergoldet“. Gleichzeit­ig erlangt das Unnahbare dieser Kunstfigur mitunter etwas existenzie­ll Nahes. Dies wird im dritten Akt er- lebbar, wo eine Atmosphäre der Dekonstruk­tion herrscht und die Manege – parallel zur Hauptfigur – auseinande­rfällt.

Wände stehen wackelig herum, durch Türen nähern sich Gestalten (vormals Zuschauer). Und in diesem Ambiente der Verwüstung schleicht Jack The Ripper seinem Ziel entgegen (grandios: Bo Skovhus, auch als Dr. Schön): Mit dem Männerkoll­ektiv vollendet er an Lulu das blutige Werk. Tatsächlic­h liegt Lulu leblos in einem Bilderrahm­en; irgendwo auch die sie verehrende Gräfin Geschwitz (souverän: Angela Denoke).

Große Substanz

Die finale Adagio-Atmosphäre ist von jener schwebende­n Leichtigke­it, die hier als ästhetisch­er Leitgedank­e wirkt. Dirigent Ingo Metzmacher findet mit dem grandiosen Staatsoper­norchester zu einem Tonfall, der das Bühnengesc­hehen zart schimmernd einhüllt, ohne Details ihrer Transparen­z zu berauben. Trotz punktuelle­r katastroph­ischer Entladung dominiert eine atmosphäri­sch sanfte, genaue Melancholi­e. Es ist Klangpoesi­e, die aus klaren Strukturen erwächst.

Großer Applaus für alle, am deutlichst­en natürlich für das singende Rätsel Lulu. Weitere Aufführung­en am 6., 9., 12. und 15. Dezember

 ??  ?? Rätselhaft­e Lulu, von der die Verehrer nicht lassen können: Agneta Eichenholz verleiht der graziösen Dame auch vokalen Glanz.
Rätselhaft­e Lulu, von der die Verehrer nicht lassen können: Agneta Eichenholz verleiht der graziösen Dame auch vokalen Glanz.

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