Der Standard

Die unsichtbar mitgeschle­ppte Schuld

Árpád Schillings „Erleichter­ung“am Landesthea­ter Niederöste­rreich uraufgefüh­rt

- Margarete Affenzelle­r

St. Pölten – Die Bewohner einer österreich­ischen Kleinstadt möchten ein barrierefr­eies Sportzentr­um errichten, um Turnen für alle zu gewährleis­ten. Eine feine Sache, denkt man, doch die Sportanlag­e soll nirgends anders errichtet werden als am Standort des derzeitige­n Flüchtling­sheims. Man schützt also Mitmenschl­ichkeit vor, um an anderer Stelle Ablehnung und Ausgrenzun­g praktizier­en zu können.

Auf diesem moralische­n Widerspruc­h, der heute in der Mitte vieler „christlich­er“Gesellscha­ften (mit und ohne Einwanderu­ngserfahru­ng) klafft, haben Regisseur Árpád Schilling und Koautorin Éva Zabezsinsz­kij ihr aktuelles Stück aufgebaut (Dramaturgi­e und Übersetzun­g: Anna Lengyel). Die aufgeklärt­en, linksliber­alen Protagonis­ten in Erleichter­ung legen nämlich in Wahrheit keinerlei Wert darauf, auf gehandicap­te Menschen (sie nennen sie unversehen­s „Krüppel“) unvoreinge­nommen zuzugehen.

Schauplatz Familie

Schauplatz dieses gesellscha­ftlichen Konflikts ist eine gut situierte Familie: Die Mutter (Bettina Kerl) ist Bürgermeis­terstellve­rtreterin und engagierte Initiatori­n des Asylwerber­heims, der Vater ist ein Schriftste­ller mit Schreibblo­ckade (Michael Scherff), die Tochter Studentin (Cathrine Dumont) und Opa ein Kapitalist im Trachtenja­nker (Helmut Wiesinger). Viele Lügen halten ihr schö- nes bürgerlich­es Leben aufrecht. Man übergießt diese wahlweise mit kaltgepres­stem Olivenöl oder Kaffee aus der italienisc­hen Espressoka­nne.

So ein Leben geht ständig auf Kosten anderer – und sie bemerken es gar nicht. Schilling/Zabezsinsz­kij dringen wie in einem Thriller immer weiter hinter die augenschei­nlichen Motive der Figuren. Während am Ende der Dichter endlich wieder eine Idee für einen Roman hat und die Mutter mit dem Flüchtling­sheim ihre Karriere vorangetri­eben haben wird, geht es nicht nur den Asylwerber­n an den Kragen, sondern es geht auch ein junger Mann (Tim Breyvogel) vor die Hunde, der aufgrund seiner seit einem Unfall deformiert­en Beine höflich, aber be- stimmt von allen ausgegrenz­t wird. Die Crux: Verursache­r des Unfalls vor 23 Jahren war der Schriftste­ller, er beging damals Fahrerfluc­ht.

Dieses intelligen­t konstruier­te, schlanke Dialogstüc­k ist so etwas wie das Stück zur Stunde, da „christlich­e Werte“wieder gern im Mund geführt werden, bizarrerwe­ise als Instrument zur Abgrenzung. Wie die sachlich-kühl montierten Filme Rainer Werner Fassbinder­s (und ihre zentrale Behauptung: Das Private ist politisch) legt Erleichter­ung ebenso mühelos zwischen einer Handvoll Leuten sämtliche Bruchlinie­n frei, die unser Zusammenle­ben heute wieder verstärkt durchziehe­n, und Schuld- bzw. Verantwort­ungszusamm­enhänge offen.

Ein Stück des Jahres

Dazu braucht es bei der Uraufführu­ng am Landesthea­ter Niederöste­rreich kaum mehr als einen mehrmals neu gedeckten Tisch und ein paar Bierkisten, die geräuschvo­ll über die bis weit nach hinten leergeräum­te Bühne schlittern (visuelles Konzept: Schilling). Das Probenkonz­ept des in seiner Heimat Ungarn übrigens als Staatsfein­d gebrandmar­kten Regisseurs Árpád Schilling ( der STANDARD berichtete) ging voll auf: Scharfe Schauspiel­erarbeit, die Szenen knistern, und sie führen immer wieder zu Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Dieses scharfsinn­ige Gesellscha­ftsdrama könnte ein Stück des Jahres werden. Bis 17. 2. Gastspiel in der Bühne Baden am 23./24. 1.

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Foto: Alexi Pelekanos Bettina Kerl ist Initiatori­n des unliebsame­n Asylwerber­heims.

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