Der Standard

Riskantes Experiment

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Während die Weltpresse über die Bedeutung der vom chinesisch­en Ministerpr­äsidenten Li Keqiang bei einer Budapester Konferenz mit 16 mittel- und osteuropäi­schen Regierungs­chefs angekündig­ten, großangele­gten Investitio­nsprojekte in dieser Region schreibt und über die geopolitis­chen Folgen des chinesisch­en Vorstoßes spekuliert, rückt ein ganz anderes Thema in den Mittelpunk­t der Aufmerksam­keit in Ungarn. Sollen die demokratis­chen Opposition­sparteien mit der übel beleumunde­ten, weil rechtsradi­kalen, roma- und judenfeind­lichen Partei Jobbik bei der Kampagne für die im April 2018 fälligen Parlaments­wahlen zusammenar­beiten? Eine solche Fragestell­ung wäre noch vor nicht allzu langer Zeit unvorstell­bar gewesen.

Was ist geschehen? Die im Ausland wohl angesehens­te ungarische Wissenscha­fterin, die Holocaustü­berlebende und Philosophi­n Agnes Heller, hat in den vergangene­n Wochen in Fernseh- und Presseinte­rviews festgestel­lt, ohne Jobbik, die bei den letzten Wahlen über 20 Prozent der Stummen erhielt, sei es unmöglich, die seit 2010 regierende Fidesz-Partei des Ministerpr­äsidenten Viktor Orbán zu besiegen. Jobbik habe sich geändert, für die Entgleisun­gen der Vergangenh­eit öffentlich entschuldi­gt und im Parlament die wichtigen Initiative­n der Opposition unterstütz­t, während sich die Regierungs­partei Fidesz mit ihren Hetzkampag­nen gegen Zuwanderer, gegen die EU und gegen die „Offene Gesellscha­ft“-Stiftungen von George Soros einen rechtsextr­emen An- strich gegeben habe. Was immer Jobbik früher vertrat, rief Heller die Zuhörer und Leser auf: „Bitte, meine Damen und Herren, Sie sollen sich die Nase zuhalten“und zusammen mit Jobbik die allerletzt­e Möglichkei­t nützen, um die Tragödie für Ungarn, nämlich weitere Jahrzehnte der FideszHerr­schaft, zu verhindern.

Agnes Heller mag provokativ formuliere­n, aber sie ist nicht allein. Auch Péter Medgyessy, der sozialisti­sche Ex-Premier, und der herausrage­nde Naturwisse­nschafter István Teplán haben die Wandlung Jobbiks festgestel­lt und die Verlängeru­ng der Fidesz-Herrschaft als die größte Gefahr bezeichnet. Nach dem Umbau des Wahlsystem­s könnte Fidesz mit den Stimmen von 31 Prozent der Wahlberech­tigten eine Zweidritte­lmehrheit im Parlament erreichen. Angesichts der Spaltung und der Streitigke­iten der linken und liberalen Gruppierun­gen einerseits und der wachsenden Anzahl von Nichtwähle­rn (zuletzt rund 40 Prozent) anderersei­ts sagen Experten aufgrund der letzten Umfragen mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit einen FideszSieg mit absoluter Mandatsmeh­rheit 2018 voraus, manche rechnen sogar mit einer Zweidritte­lmehrheit für Orbán.

Die Kampagne für eine „soziallibe­rale Einheitsfr­ont mit Jobbik“als letzte Chance gegen das als „Räuberband­e funktionie­rende Orbán-Regime“(József Debreczeni, Autor von zwei Orbán-Biografien) könnte sich allerdings als ein Bumerang entpuppen: Jobbik verliert den rechten radikalen Rand und die Linke ihre Kernwähler wegen des Flirts mit Jobbik. Vom Westen trotz verbaler Mahnrufe nicht gefährdet, vom Osten hofiert, würde dann der 54-jährige Orbán mehr denn je seine absolute Herrschaft genießen.

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