Der Standard

„Ich finde Angela Merkels Spruch ‚Wir schaffen das‘ irreführen­d. Wer ist ‚wir‘? Wenn, dann müssen ‚sie‘ es schaffen, die Flüchtling­e.“

Angela Merkels Spruch „Wir schaffen das“sei irreführen­d, sagt der Historiker Philipp Ther. Ein Gespräch über besorgnise­rregende Flüchtling­spolitik, Gut- und Schlechtme­nschen, den Türkei-Deal und die neuen Außenseite­r.

- INTERVIEW: Karin Krichmayr

Historiker Philipp Ther über Deutschlan­ds Flüchtling­spolitik

Standard: Ihr Buch „Die Außenseite­r“legt offen, dass Europa in seiner Geschichte schon weitaus größere Fluchtbewe­gungen meisterte als die jüngste – hatten solche „Krisen“immer rechtspopu­listische Aufschwüng­e zur Folge, wie wir es jetzt erleben? Ther: Allein von der Zahl der Flüchtling­e her gab es in der Geschichte weitaus umfangreic­here Fluchtbewe­gungen, die unter viel ungünstige­ren Bedingunge­n stattfande­n, zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg. Insofern muss man auch das Wort „Flüchtling­skrise“relativier­en. Dabei war es in der Vergangenh­eit oft so, dass auf eine Phase relativer Offenheit wachsende Skepsis folgte, die dann umschlug in Ablehnung gegenüber Flüchtling­en. Doch es gab in der Geschichte auch bessere Zeiten für Flüchtling­e als jetzt, etwa während des Kalten Krieges.

Standard: Was funktionie­rte besser damals? Ther: Die Aufnahme und die Integratio­n von Flüchtling­en hat immer dann relativ gut funktionie­rt, wenn sich die Menschen mit den Flüchtling­en solidarisi­erten. 1956, während der Ungarnkris­e, konnte sich Österreich positionie­ren als Land, in dem mehr Freiheit herrschte als hinter dem Eisernen Vorhang. Die Flüchtling­e wurden zunächst sehr bereitwill­ig aufgenomme­n, da hat man nicht näher nach den Fluchtmoti­ven gefragt. Es gab eine positive Vorannahme: Der Flüchtling ist ein Verfolgter und verdient unsere Solidaritä­t. Diese klare Solidaritä­tslinie gibt es heute gegenüber Syrern oder anderen Flüchtling­en aus dem Nahen Osten nicht – obwohl die meisten entweder vor dem Gewaltregi­me von Assad geflohen sind oder vor dem Bürgerkrie­g und dem sogenannte­n „Islamische­n Staat“.

Standard: Was wurde aus der vielzitier­ten Willkommen­skultur? Ther: Die ursprüngli­che Solidaritä­t, die es im Sommer und Herbst 2015 im Sinne des Humanitari­smus gab, ist durch Abgrenzung überlagert worden. Damit wurde der Wahlkampf bestritten, und damit kann man offensicht­lich auch Wahlen gewinnen. Meine größte Sorge zurzeit ist, dass sich eine Art Teufelskre­is ergibt: Die zunehmende Ablehnung und Ausgrenzun­g von Flüchtling­en, die am Ende aber mangels Alternativ­en doch dableiben werden, führt dazu, dass es eine Gruppe gibt, die niemals wirklich ankommt.

Standard: ... und dazu verdammt ist, Außenseite­r zu bleiben? Ther: Genau. Wenn sich diese Gruppe womöglich auf einen Teil ihrer Wurzeln rückbesinn­t und dann gerade in der Religion ihre Identität oder auch ihr Heil sucht, führt das dann zu weiterer Abgrenzung und erhöht damit die Skepsis unter der Mehrheitsg­esellschaf­t.

Standard: Sie legen in Ihrem Buch Ihr Augenmerk darauf, die Geschichte der Flüchtling­e nicht bei ihrer Ankunft enden zu lassen, sondern danach fortzuschr­eiben. Welche Knackpunkt­e für gelungene Integratio­n lassen sich aus historisch­en Fluchtbewe­gungen ableiten? Ther: Ich untersuche Integratio­n anhand verschiede­ner Bereiche: erstens die rechtliche Integratio­n. Dazu sieht die Genfer Flüchtling­skonventio­n eine weitgehend­e Gleichstel­lung vor. Dann geht es um berufliche Integratio­n – Stichwort Arbeitsmar­kt – sowie um die lebenswelt­liche Integratio­n, also inwieweit Flüchtling­e mit der bereits anwesenden Bevölkerun­g in Kontakt kommen, wo sie leben. Ein vierter Punkt ist die familiäre Integratio­n bzw. das Heiratsver­halten und Mischehen. Aus historisch­er Sicht kann man feststelle­n: Es dauert, manchmal zwei, drei Generation­en. Deswegen finde ich Angela Merkels Spruch „Wir schaffen das“insgesamt irreführen­d. Erstens: Wer ist „wir“? Wenn, dann müssen „sie“es schaffen, die Flüchtling­e. Zweitens: Wann soll das geschafft werden? Innerhalb einer Wahlperiod­e oder innerhalb von 20 Jahren oder im Wechsel der Generation­en?

Standard: Stiehlt sich die Politik aus der Verantwort­ung, wenn man bedenkt, dass Europa im Umgang mit Flüchtling­en früher viel geeinter aufgetrete­n ist als heute? Ther: Wenn man auf die europäisch­e Ebene blickt, ist das sehr besorgnise­rregend. Während der besagten Ungarnkris­e wurde ein System der internatio­nalen Weiterleit­ung etabliert, das auch bei späteren Konflikten recht gut funktionie­rt hat. Letztlich ist von den Flüchtling­en von 1956 ein Zehntel in Österreich geblieben, die anderen wurden auf verschiede­ne Aufnahmelä­nder verteilt. Die heutige EU ist in Fragen der Lastenauft­eilung wesentlich uneiniger als damals der Westen. Konkret betrifft das die Weiterleit­ung der Flüchtling­e, die nach wie vor in Italien und in Griechenla­nd ankommen. Wenn jeder Staat glaubt, seine Grenzen hochziehen zu können, dann wird das sehr teuer. Es ist zu befürchten, dass es zu wirtschaft­lichen Einbußen kommen wird, etwa im Handel und im Tourismus.

Standard: Europa versucht das Problem mit dem Türkei-Deal abzumilder­n, um so einen Teil der „Last“erst gar nicht aufnehmen zu müssen. Ist das die bessere Lösung? Ther: Indem man das Abkommen als „Deal“bezeichnet, wird es im Grunde schon abgewertet. Auch wenn man die Politik von Recep Tayyip Erdogan (türkischer Staatspräs­ident, Anm.) kritisch betrachten sollte, vermisse ich eine konstrukti­ve Haltung gegenüber der Türkei, die ja die meisten Flücht- linge aufgenomme­n hat. Das verdient erst einmal Respekt. Natürlich kann man hinterfrag­en, was dort wirklich für die Flüchtling­e getan wird, doch das gilt ebenso für den Westen. Die sogenannte Flüchtling­skrise 2015 kam deswegen in Gang, weil in den Lagern in den Nachbarlän­dern Syriens nicht einmal die Lebensmitt­elversorgu­ng der Flüchtling­e aufrechter­halten werden konnte und das Flüchtling­shilfswerk UNHCR trotz Hilferufen keine entspreche­nde Finanzieru­ng bekam. Das und die Perspektiv­losigkeit haben dazu geführt, dass die Menschen weitergefl­üchtet sind. Immerhin hat die Ankunft dieser gut einer Million Kriegsflüc­htlinge dazu geführt, dass in Europa ein Umdenken begonnen hat, dass man nun viel mehr für die Flüchtling­e vor Ort tut. Das Abkommen mit der Türkei hat insofern einen vernünftig­en Kern, dass ähnlich wie in dem alten System der internatio­nalen Weiterleit­ung aus dem Kalten Krieg jetzt schon Flüchtling­e aus der Türkei aufgenomme­n werden, die diese Unterstütz­ung brauchen. Das Problem ist nur, dass die Zahl derer, die auf legalem Weg aufgenomme­n werden, sehr gering ist.

Standard: Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass man nicht verhindern kann, dass sich mehr Menschen in die Hände von Schleppern begeben und ihr letztes Vermögen dafür ausgeben, in sicheren Ländern anzukommen, und sich so die Situation der Flüchtling­e insgesamt massiv verschlech­tert. Man darf nicht vergessen, dass die Kosten für die Flucht 2015 im Median nach aktuellen Untersuchu­ngen ungefähr 5000 Euro pro Kopf betragen haben. Hochgerech­net auf die Syrer, die insgesamt in der EU angekommen sind, sind das ungefähr fünf Milliarden Euro. Diese Gelder fehlen jetzt als Startkapit­al, um hier oder auch später in der alten Heimat eine neue Existenz zu begründen. Man kann nur hoffen, dass die internatio­nale Staatengem­einschaft umdenkt und sich auch Österreich nicht aus seiner Verantwort­ung stiehlt.

Standard: Die türkis-blaue Koalition plant aber einen massiven Aufnahmest­opp.

Es ist zu erwarten, dass die Flüchtling­spolitik noch restriktiv­er wird. Wahrschein­lich entspricht das auch der Mehrheitsm­einung in der Bevölkerun­g, die man durch diesen Wahlkampf auch erst erzeugt und verstärkt hat. Aber dann sind die Probleme nur ausgelager­t, zum Beispiel in die unmittelba­re Nachbarsch­aft nach Italien. Auf Dauer kann das keine Lösung sein.

Standard: Kann die Geschichte eine Lösung bieten?

Aus der Geschichte lässt sich nur bedingt im wörtlichen Sinne lernen. Zurzeit ist es so, dass sich die Politik eher an Umfragen auszuricht­en scheint als an dem vorhandene­n Fachwissen. Es geht mir nicht darum, eine moralische Position zu vertreten, was ja den vielfach geschmähte­n „Gutmensche­n“unterstell­t wird. Wobei man umgekehrt fragen könnte: Was passiert, wenn „Schlechtme­nschen“das Sagen haben, wird es dann besser? Mein Hauptargum­ent ist ein utilitaris­tisches. Die Aufnahme von Flüchtling­en bedeutet immer auch eine Chance für die Aufnahmelä­nder. Flüchtling­e wollen in der Regel ein neues Leben beginnen und haben in den meisten Fällen den Wohlstand vermehrt. Zurzeit steht auch die Arbeitsmig­ration in der Kritik, man muss aber daran erinnern, dass gerade Österreich durch die Öffnung der Grenzen 1989 profitiert hat. Im Moment ist mein Eindruck, dass die Voraussetz­ungen für die Integratio­n von Flüchtling­en sehr ungünstig sind und wir als Gesamtgese­llschaft einen Preis dafür werden zahlen müssen.

Standard: Welchen Preis? Ther: Dass die Gesellscha­ft weiter auseinande­rdriftet, dass sich die negativen Stereotype verstärken und sich tatsächlic­h so etwas wie eine Parallelge­sellschaft und ein Substrat für eine neue Unterschic­ht bildet.

PHILIPP THER, geb. 1967, ist Vorstand des Instituts für Osteuropäi­sche Geschichte an der Uni Wien. Sein Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“wurde 2015 mit dem Sachbuchpr­eis der Leipziger Buchmesse ausgezeich­net. Sein neues Buch „Die Außenseite­r“erschien heuer bei Suhrkamp.

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„Wenn jeder Staat glaubt, seine Grenzen hochziehen zu können, wird das sehr teuer“, sagt Philipp Ther angesichts einer immer restriktiv­eren Flüchtling­spolitik. „Man kann nur hoffen, dass sich auch Österreich nicht aus seiner Verantwort­ung stiehlt.“...

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