Der Standard

Theresa Mays „Chaoskoali­tion“

In London herrscht Ratlosigke­it: Premiermin­isterin May zog sehr überrasche­nd einen weitgehend verhandelt­en Kompromiss bei den Brexit-Gesprächen zurück. Dafür gibt es nun Kritik – und Häme.

- Sebastian Borger aus London ANALYSE:

Eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland? Zollschran­ken? Oder gar ein komplettes Umdenken der Londoner Brexit-Strategie? Vierundzwa­nzig Stunden nach dem dramatisch­en Rückzieher, mit dem Premiermin­isterin Theresa May einen bereits ausgehande­lten Kompromiss wieder vom Brüsseler Verhandlun­gstisch nahm, überwog in London am Dienstag die Ratlosigke­it.

Mit dem Besuch in Brüssel, wo sie mit EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsid­ent Donald Tusk zusammentr­af, wollte die 61-Jährige eigentlich die erste Brexit-Verhandlun­gsphase abschließe­n. Dazu müssen drei Probleme vom Tisch:

Über die zukünftige rechtliche Situation der rund vier Millionen EU-Bürger auf der Insel und rund einer Million Briten in der EU gibt es weitgehend­e Einigkeit – auch wenn sich London noch sträubt, dem Europäisch­en Gerichtsho­f mehr als höchstens eine beratende Funktion einzuräume­n. Auch der Streit ums liebe Geld scheint beigelegt. Vergangene Woche akzeptiert­e London die von der EU errechnete­n Brutto-Verbindlic­hkeiten von rund 98 Mrd. Euro. Netto wird die Insel über mehrere Jahre zwischen 40 und 55 Mrd. Euro in Brüssel einzahlen müssen.

Streit um irische Grenze

Hingegen stoßen bei der Frage der inneririsc­hen Grenze die Meinungen hart aufeinande­r. London wollte der Dubliner Regierung von Leo Varadkar, dessen Linie vom Rest Europas unterstütz­t wird, entgegenko­mmen: Zwischen den Inselteile­n solle eine „Regelangle­ichung“(„regulatory alignment“) stattfinde­n, damit die vielerorts kaum noch sichtbare Landgrenze nicht zur harten EU-Außengrenz­e wird. Dublin hatte zuvor „keine Regelabwei­chung“(„no divergence“) gefordert, zeigte sich aber mit der neuen Formulieru­ng zufrieden. Dabei lässt diese die Möglichkei­t offen, dass London zwar nahe an den Regeln des Binnenmark­tes bleibt, diese aber selbst bestimmt.

Das genügt den Belfaster Unionisten nicht. Diese ärgerten sich über triumphale Medienberi­chte aus Brüssel und die vermeintli­che Taubheit der Londoner Regierung. Ihre Partei werde nicht zulassen, dass in Nordirland „andere Regeln“gelten als im Rest des Ver- einigten Königreich­s, sagte DUPChefin Arlene Foster.

Das ist Unsinn, schließlic­h gibt es in der zu 70 Prozent vom Londoner Tropf abhängigen Provinz weder die Ehe für alle noch legale Abtreibung. Auch verschweig­t Foster, dass ihre Partei bei der Regionalwa­hl im März 29 Prozent und bei der Unterhausw­ahl im Juni 36 Prozent der Stimmen erhielt – sie kann kaum für eine Mehrheit der Nordiren sprechen. Im Gegenteil: Die DUP warb beim Referendum 2016 als einzige große Partei für den Brexit, 56 Prozent der Nordiren stimmten für den EU-Verbleib.

Aber May ging nach der Unterhausw­ahl, bei der sie ihre eigene Mandatsmeh­rheit verloren hatte, panikartig ein Bündnis mit den zehn Mandatsträ­gern der DUP ein. Zudem würden mindestens ein Dutzend ihrer eigenen Abgeordnet­en sowie einige Labour-Hardliner gegen den Irland-Kompromiss stimmen, wenn es im Unterhaus zur Abstimmung käme.

Warum May dann aber die Abstimmung mit Foster nicht suchte, ehe sie in Brüssel den Kompromiss anbot, bleibt schleierha­ft. Bei Mays Regierung, höhnte Labours Brexit-Sprecher Keir Starmer, handle es sich um „eine Peinlichke­it: die Chaoskoali­tion“.

Eine Erklärung für den Kommunikat­ionsbruch zwischen London und Belfast könnte darin liegen, dass die Konservati­ven seit 2010 das früher eminent wichtige Nordirland-Ressort mit lediglich zweitoder drittklass­igen Politikern besetzt haben. Ihren Vertrauten Gavin Williamson musste May vergangene­n Monat mangels Alternativ­en zum Verteidigu­ngsministe­r machen. Ihr Regierungs­vize Damian Green ist durch peinliche Sexvorwürf­e, die gegen ihn erhoben werden, abgelenkt. Womöglich fehlt der Premiermin­isterin schlichtwe­g ein zuverlässi­ges Bindeglied zu Belfasts Hardlinern.

Druck aus der Partei

Unter Druck gerät May aber auch vonseiten des liberalen Flügels ihrer Partei. Die Schottin Ruth Davidson mahnte London dazu, es dürften die Teile des Landes nicht unterschie­dlichen Regeln unterworfe­n werden. Aber vielleicht, so die EU-Freundin listig, könne die „Angleichun­g“ja fürs ganze Land gelten? Die englische Parteifreu­ndin Anna Soubry ging noch weiter: Ihre Regierung solle doch die weitere Mitgliedsc­haft in Binnenmark­t und Zollunion erwägen.

Womöglich schon heute, Mittwoch, will May erneut in Brüssel auftauchen. Die „irische Frage“hat sich schon für viele ihrer Vorgänger als Stolperste­in erwiesen. Wenig deutet darauf hin, dass May dem derzeitige­n Felsbrocke­n ausweichen kann.

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Nach Theresa Mays dramatisch­em Rückzieher in Brüssel hatte es Brexit-Minister David Davis am Dienstag sehr eilig, rechtzeiti­g zu Krisengesp­rächen in der Downing Street einzutreff­en.

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