Der Standard

„Ich wurde unter zwei wundervoll­en Sternen geboren“

Claudie Haigneré hat bereits viele Leben gelebt: Als ehemalige Astronauti­n, Politikeri­n, Ärztin und Museumsgrü­nderin gilt sie heute als Vorbild für junge Wissenscha­fterinnen.

- INTERVIEW: Katharina Kropshofer

STANDARD: Wie kommt man eigentlich darauf, Astronauti­n werden zu wollen?

Haigneré: Ich glaube, die Entscheidu­ng lag irgendwo zwischen einem Traum und der richtigen Gelegenhei­t. Ich wurde unter zwei wundervoll­en Sternen geboren: dem Vertrag von Rom, einer der Gründungss­äulen für die EU im März 1957, und dem Start von Sputnik im Oktober 1957. Die Sterne für eine europäisch­e Karriere in der Raumfahrt standen also gut. Als ich dann mit zwölf Jahren die erste Mondlandun­g im Fernsehen sah, begriff ich, dass so ein Traum auch Wirklichke­it werden kann – und das hat ein Fenster in meinem Kopf geöffnet.

STANDARD: Wie ging es dann weiter?

Haigneré: So etwas wie eine Astronaute­nschule gibt es ja nicht, also beschloss ich, Medizin zu studieren. Ein paar Jahre später habe ich dann einen Aufruf der French Space Agency gesehen, die nach Astronaute­n für Experiment­e auf der Weltraumst­ation gesucht hat. Das war der Moment, in dem sich Traum und Gelegenhei­t vermischt haben, und ich hatte nicht die geringsten Zweifel, dass ich es probieren musste.

STANDARD: Haben Sie sich jemals so gefühlt, als wären Sie nicht bereit?

Haigneré: Ich war sehr bereit! Das Training war lang und anstrengen­d, und ich hatte zwei davon: zuerst als Back-up für meinen Mann und dann für meinen eigenen Flug. Bevor es losgeht, erzählen dir deine Kollegen natürlich, wie es sein wird, aber es ist trotzdem alles neu und aufregend. Du kannst noch so viel trainieren, alles wissen, aber nichts bereitet dich dann auf den Moment des Raketensta­rts vor. Ich habe mich aber schnell an alles gewöhnt – Geschwindi­gkeit, Beschleuni­gung, verringert­e Schwerkraf­t.

STANDARD: Erinnern Sie sich an einen besonderen Moment im All?

Haigneré: Zwischen der Realität auf der Erde und der während des Flugs liegt schon ein gewaltiger Unterschie­d. Es dauert acht Minuten, bis man in die verringert­e Schwerkraf­t kommt, und dann zwei Tage, bis man bei der Raumstatio­n angelangt ist. Dieser Moment, in dem man die Station größer und größer werden sieht, der war für mich unglaublic­h beeindruck­end. Und dann ist da der Blick aus dem Fenster. Oder eigentlich aus zwei: eines Richtung Erde, die einem so zerbrechli­ch vorkommt, das andere in den schwarzen Kosmos mit seinen Milliarden Sternen. Eine Erdumkreis­ung dauerte 90 Minuten. Das heißt, man macht das 16 Mal am Tag, inklusive 16 Sonnen- und Mondaufgän­gen. Das ist schon etwas wahnsinnig Schönes.

STANDARD: Sie haben von der Zerbrechli­chkeit unseres Planeten gesprochen – sollte man sich in der Forschung mehr auf die Erde oder doch aufs Weltall konzentrie­ren?

Haigneré: Wir haben sehr viele offene Fragen auf der Erde. Ich würde aber sagen, dass das Weltall ein sehr guter Ort ist, um Lösungen für „irdische“Probleme wie zum Beispiel den Klimawande­l zu finden. Es gibt GPS-Ortungen, die das Alter von Gletschere­is oder die Höhe des Meeresspie­gels bestimmen. Dazu kommt, dass man viele Versuche gar nicht auf der Erde unternehme­n kann. Ich denke da zum Beispiel an das Testen von Schwerkraf­t. Auf der ISS (Interna

tional Space Station, Anm.) gibt es massenhaft Labore für Strömungsp­hysik, DNA-Sequenzier­ungen oder Physiologi­e und sogar Gefriersch­ränke, in denen man Proben aufbewahre­n kann. Und dann ist da noch der Aspekt der Inspiratio­n für die Zukunft – die kann von der Forschung stammen aber auch von Abenteuern, die Menschen erleben.

STANDARD: Was war anders für Sie als eine der einzigen Frauen in der Raumfahrt?

Haigneré: Wenn man für eine Mission ausgewählt wird, dann konzentrie­ren sich alle nur auf den Erfolg der Mission. Das gilt auch für die Koordinier­ung von Herangehen­sweisen

trotz der Unterschie­de im Team. Nur die Raumanzüge waren nicht unbedingt an den

weiblichen Körper angepasst. (An dieser Stelle zeichnet sie mit ihren Händen eine Linie mit zehn Zentimeter­n Abstand zu ihrem Körper, um die Ausmaße des Raumanzugs darzustell­en, plustert ihre Wangen auf und lacht.)

STANDARD: Hat immer ein respektvol­les Klima geherrscht?

Haigneré: Ja, auf jeden Fall. Ich würde sogar sagen, dass es für die Bodenkontr­olle einfacher war, eine gemischte Crew zu haben, weil dann nicht eine Person die Kontrolle an sich gerissen hat.

STANDARD: Wäre eine komplett weibliche Besatzung eine gute Idee?

Haigneré: Vielleicht, aber wir sind sehr weit davon entfernt. Nur etwa zehn Prozent aller Astronaute­n sind Frauen. Als ich in den 70er-Jahren Medizin studiert habe, waren circa die Hälfte der Studenten weiblich, und ich hab mir gedacht, „Ah, jetzt sind unsere Probleme endlich gelöst!“Wir haben aber immer noch welche, zum Beispiel bei Gleichbere­chtigung auf einem höheren Level – da sind dann wieder nur etwa zehn Prozent weiblich. Frauen müssen aktiv und zielbewuss­t sein. Deswegen engagiere ich mich für „For Women in Science“.

STANDARD: Gibt es da einen Weg, den öffentlich­en Diskurs etwas zu leiten?

Haigneré: Ich sage immer, dass es in unserem digitalen Zeitalter nicht mehr nur ums Informiere­n geht. Wir werden überschwem­mt mit Daten, aus denen wir Infos herauslese­n müssen. Deswegen wird es immer wichtiger für junge Forscher und Forscherin­nen, das Ganze auch interpreti­eren zu können. Es geht nicht darum, auf alles eine Antwort zu haben, sondern darum, den Diskurs richtig zu führen! Ansonsten laufen wir Gefahr, zwei sterile Seiten einer Meinungsve­rschiedenh­eit zu haben. Parallel dazu wünsche ich mir einen Prozess, in dem die Rolle von Wissenscha­ft in der Gesellscha­ft reflektier­t und auch über Unsicherhe­iten und Misserfolg­e gesprochen wird.

STANDARD: Ihre Karriere war ja sehr divers – von Medizin über Raumfahrt und Politik bis ins Management. Sehen Sie sich als eine Art Rebellin oder Vorbild?

Haigneré: Ich habe immer versucht, mich von einem Bereich für den anderen inspiriere­n zu lassen. Ich glaube, durch die vielen „Leben“, die ich gelebt habe, bin ich auch im Bildungssy­stem gut eingebunde­n. Wenn man sich zum Beispiel nur auf technologi­sche Innovation­en konzentrie­rt, verpasst man neue Gelegenhei­ten oder glückliche Zufälle. Und Bildung ist der Schlüssel, um das zu verstehen. Ich drehe deshalb die Frage „Welchen Planeten wollen wir unseren Kindern überlassen?“um und frage: „Welche Kinder wollen wir unserem Planeten überlassen?“

CLAUDIE HAIGNERÉ (60) lebt in Frankreich und kam im Rahmen der Stipendien­verleihung „For Women in Science“als Festredner­in nach Wien. Sie war an Bord von zwei Missionen, der Mir-Cassiopeé und der ISS-Andromède, und wurde als erste europäisch­e Frau auf der Internatio­nal Space Station (ISS) bekannt. Später hatte sie in Frankreich diverse Ämter inne, zum Beispiel auch als Ministerin für Forschung und Technologi­e.

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Haigneré posiert im Festsaal der Akademie der Wissenscha­ften, in dem vergangene Woche im Rahmen der L’Oréal-Stipendien­verleihung „For Women in Science“, die vom Wissenscha­ftsministe­rium unterstütz­t wird, fünf Wissenscha­fterinnen ausgezeich­net wurden.
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Foto: Mikhail Grachyev Claudie Haigneré winkt aus dem Raumschiff Sojus, das sie 2001 von einem zehntägige­n ISS-Besuch heimbringt.

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