Der Standard

Die Digitalisi­erung von Dialekten ist eines der Anwendungs­felder der Digital Humanities. Digitale Editionen und quantitati­ve Textanalys­e erfordern neue Arbeitswei­sen und Qualifikat­ionen.

- Doris Griesser

Wien – Es sind vor allem die textund sprachbezo­genen Diszipline­n der Geisteswis­senschafte­n, in denen seit den 1990-Jahren immer häufiger computerge­stützte Methoden eingesetzt werden. Als Pionier der sogenannte­n Digital Humanities gilt der italienisc­he Jesuitenpa­ter Roberto Busa, der in Zusammenar­beit mit dem IBMGründer Thomas Watson in den 1940er-Jahren die Texte des Thomas von Aquin mittels Computer digitalisi­ert und indexiert hat.

Mittlerwei­le laufen an den meisten Bibliothek­en große Digitalisi­erungsproj­ekte, der Einsatz digitaler Werkzeuge gehört für viele Geisteswis­senschafte­r zum Alltag. Damit wuchs auch der Bedarf an entspreche­nder Software, digitalen Infrastruk­turen und Know-how. Vor vier Jahren wurde deshalb das Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH) an der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften gegründet. An diesem Forschungs­institut werden nicht nur digitale Methoden und Werkzeuge für die unterschie­dlichsten geisteswis­senschaftl­ichen Anwendunge­n entwickelt, sondern auch riesige Datenbestä­nde digitalisi­ert, bearbeitet und verknüpft.

ACDH-Experten erstellten gemeinsam mit der Austria Presse Agentur etwa das „Austrian Media Corpus“: eine Sammlung von mehr als 40 Millionen Texten. „Diese Sammlung deckt die gesamte ös- terreichis­che Medienland­schaft der vergangene­n zwei Jahrzehnte ab“, sagt Alexandra Lenz, die am ACDH eine eigene Forschungs­abteilung zum Thema „Variation und Wandel des Deutschen in Österreich“leitet. Die Linguistin nutzt mit ihrem Team diesen gigantisch­en Datenpool, um die österreich­ische Schriftspr­ache, ihre regionalen Eigenheite­n und Veränderun­gen zu untersuche­n.

Wörterbuch der Mundarten

„Früher wurden die regionalen Besonderhe­iten von den jeweiligen Experten eher intuitiv ermittelt“, so Lenz. „Mit dieser riesigen Sammlung von Zeitungste­xten können wir nun objektive, generalisi­erende Aussagen machen.“Ein anderes sprachbezo­genes Großprojek­t am ACDH ist das Wörterbuch der bairischen Mundarten. Wobei zum bairischen Sprachraum (nicht zu verwechsel­n mit dem bayrischen) auch fast alle österreich­ischen Dialekte gehören. Zwischen 1913 und 1936 wurden dazu umfangreic­he Fragebogen­erhebungen in 2000 österreich­ischen Dörfern durchgefüh­rt. „Diese Daten lagern in einem riesigen Zettelkast­en mit rund vier Millionen Dateikarte­n“, berichtet Lenz. Nun wird dieser wertvolle Datenschat­z digitalisi­ert, sodass auch Interessie­rte außerhalb der akademisch­en Welt mehr als einen Blick in die fasziniere­nde Welt der verschwund­enen Dialektwör­ter und Wortbedeut­ungen können.

Am entspreche­nden Wörterbuch arbeiten ÖAW-Forscher seit 100 Jahren, die ersten fünf Bände von A bis E sind schon erschienen. Durch die Digitalisi­erung wird sich das Tempo nun steigern – „in rund 15 Jahren wollen wir fertig sein“, so die Linguistin. werfen

Suche nach Hybridwese­n

Basis der Digital Humanities sind nicht nur digitalisi­erte Texte, sondern beispielsw­eise auch digitalisi­erte Fotos von Museumsart­efakten oder Audio- und Filmaufnah­men. Wirklich spannend wird das Arbeiten mit diesen Daten, wenn sie (text)technologi­sch aufbereite­t sind. So können etwa digitale Editionen über ein Internetpo­rtal zugänglich und durchsuchb­ar gemacht werden. Außerdem lassen sich unterschie­dliche Dokumente über Hyperlinks untereinan­der sowie mit externen Quellen wie beispielsw­eise Landkarten, Fotos oder Enzyklopäd­ien verbinden. Hier kommen Begriffe wie „Open Data“, „Linked Data“und „Interopera­bilität“ins Spiel.

Müssen Geisteswis­senschafte­r heute also auch IT-Experten sein? „Nicht unbedingt“, sagt ACDH-Direktor Karlheinz Mörth. „Um seriöse Auswertung­en zu bekommen, sollten sie aber schon wissen, was die von ihnen benutzten digitalen Tools machen und wie die Daten strukturie­rt sind.“Sich einfach einen Techniker zum Projekt dazu zu holen reiche jedenfalls nicht. „Die nächste Forscherge­neration braucht ein neues Methodenin­ventar und muss damit auch umgehen lernen.“

Zurzeit ist diese Expertise unter den Geisteswis­senschafte­rn noch nicht allzu weit verbreitet. „Die passenden Leute für unser Zentrum zu finden ist nach wie vor ein Problem“, sagt Mörth. Einerseits müssen sie über solide IT-Kenntnisse verfügen, anderersei­ts brauchen sie auch ein tieferes Verständni­s für die Geisteswis­senschafte­n. „Die meisten unserer Mitarbeite­r sind deshalb Hybridwese­n, die sich parallel zu einem geisteswis­senschaftl­ichen Studium profunde IT-Kenntnisse angeeignet haben.“Durch diverse Förderprog­ramme habe sich die Situation zuletzt allerdings gebessert. Auch die beiden neuen Professure­n für Digital Humanities an den Unis Wien und Graz werden künftig für den sehnlich erwarteten Nachwuchs sorgen.

Ob das der Auftakt zu einer umfassende­n qualitativ­en Wende in den Geisteswis­senschafte­n ist? Manche hoffen darauf, andere fürchten um das eigenständ­ige Interpreti­eren und Denken zugunsten von Statistik. Eines ist jetzt schon klar: Ohne intelligen­te Fragen und eine korrekte Interpreta­tion der Resultate werden selbst die smartesten digitalen Methoden nicht funktionie­ren.

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