Die seismologischen Sinne der Ziegen
Viele Mythen ranken sich darum, dass Tiere Erderschütterungen lange vor Menschen spüren. Ob sich das auch wissenschaftlich belegen lässt, untersuchen Forscher nun anhand von Ziegen am Vulkan Ätna.
Radolfzell – „Wenn ich meine Idee vorstelle, ernte ich manchmal komische Blicke“, sagt Martin Wikelski, Direktor des Max-PlanckInstituts für Ornithologie in Radolfzell in Baden-Württemberg. Zwar verlassen sich Tierbesitzer gerne auf das Gespür ihrer Vierbeiner, in der Wissenschaft ist das Vertrauen in tierische Leistungen aber eher verpönt. Zu Unrecht findet Wikelski, der überzeugt ist, dass der Mensch die überlegenen Sinnesleistungen von Tieren nutzen sollte: „Anhand ihrer besseren Messsysteme und überlegenen Informationsverarbeitung können Tiere Vorhersagen machen, zu denen menschengemachte, technische Sensorik nicht in der Lage ist“, sagt der Biologe. Tatsächlich lassen sich Erdbeben bis heute nicht und Vulkanausbrüche nur bedingt vorhersagen.
Um einen solchen „sechsten Sinn“der Tiere ranken sich viele Erzählungen: Elefanten, die vor einem Tsunami ins Landesinnere fliehen, Schlangen, die vor einem Erdbeben aus ihrem Winterschlaf erwachen. Wikelski ist aber der Erste, der das Phänomen auch wissenschaftlich untersucht hat. Die Wahl fiel auf den Vulkan Ätna in Sizilien, da dieser kontinuierlich aktiv ist und an dessen Hängen ganzjährig Ziegen grasen. Die- se statteten die Forscher mit robusten Miniatursendern aus, die an einem Halsband befestigt waren. Zwei Jahre lang zeichneten die Sender durchgängig die exakte GPS-Position und das Bewegungsprofil der Ziegen auf. „Wir wissen heute sehr gut, was in so einem Ziegenleben passiert“, sagt Wikelski.
Im Untersuchungszeitraum gab es sieben größere Ausbrüche. Beim Abgleich der Ziegendaten, also der Bewegungsprofile, mit der vulkanischen Aktivität erkannten die Wissenschafter einen klaren Zusammenhang: Mehrere Stunden vor einem Vulkanausbruch wurden die Tiere ungewöhnlich unruhig: Sie liefen hin