Gespür für Schnee und andere Wetterphänomene
Vereisung, Wind und Extremwetter – im Klima-Wind-Kanal in Wien-Floridsdorf werden Belastungen simuliert, die Reisezüge, Flugzeugtriebwerke oder Autobusse tagtäglich aushalten müssen.
– Der Schnee klebt zentimeterdick auf Windschutzscheibe und Bugklappe, an den Türen hängen Eiszapfen und die Temperatur fühlt sich arktisch an. Als der in Strickmütze und Daunenjacke gehüllte Herr auf den Türöffner der Schnellzugsgarnitur drückt und sich die Schiebetür tatsächlich bewegt, geht ein erleichtertes Raunen durch den schlauchartigen Raum. Es hat funktioniert.
Der Giruno, wie die Schweizerische Bundesbahn (SBB) ihren neuen Schnellzug nennt, der im März 2019 in der Eidgenossenschaft Fahrt aufnehmen wird, hat den Test bestanden. Zufrieden hakt Thomas Legler, Leiter Technik Fernverkehr beim schweizerischen Schienenfahrzeugbauer Stadler Rail, auf dem Flipchart den Punkt „Einstiegstüren“ab.
Der Nassschneetest bei minus 7° C, wie er im Klima-Wind-Kanal in Wien-Floridsdorf durchgeführt wird, gehört zu den anspruchsvollsten, den Schienenfahrzeuge bestehen müssen. Der Schnee ist schwer und die Feuchtigkeit kann Kupplungen und Einstiegstüren vereisen lassen. Auch Fahrzielanzeigen, also die elektronischen Hinweise an den Waggons neigen unter null Grad zu Fehlverhalten.
Anfälligkeiten und Kinderkrankheiten wie diese sucht man im Klima-Wind-Kanal aufzuspüren. Dabei wird der Zug in eine mehr als hundert Meter lange Röhre geschleppt, in der Extremwetter simuliert, ja geradezu inszeniert wird. „Natürlich nicht alle mehr als tausend Arten von Schneekristallen, die es in der Atmosphäre gibt“, schränkt Gabriel Haller, der Leiter Technik und Wissenschaft der RTA Rail Tec Arsenal Fahrzeugversuchsanlage, wie der Klima-Wind-Kanal mit vollem Namen heißt, ein.
Sonne, Regen, Hitze
Gespür für Schnee und Eis brauchen die Männer der RTA jedenfalls, aber auch für Wind, Sonne, Regen und Hitze. Denn im längsten Testtunnel Europas wird erprobt, ob Schienenfahrzeuge, Autobusse oder Hubschrauber bei Wetterbedingungen von minus 45 bis plus 60 Grad Celsius ebenso auf Kurs bleiben wie bei Windgeschwindigkeiten von bis zu 300 Kilometer pro Stunde. Ein Laufrad mit 6,3 Meter Durchmesser und 4,7 Megawatt Leistung sorgt für Luftströmung, Gebläse, Frontoder Seitenwind – wie in der Natur. Bremsen und Traktionssystem werden auf einem Rollenprüfstand getestet.
Eine Herausforderung stellen insbesondere Tunnelein- und -ausfahrten dar, schildert RTA- Mann Gabriel. Denn wenn die klimatischen Bedingungen im Blitztempo wechseln, gefriert Wasser, es bildet sich Kondensat, das Türen und Anlagen vereisen lässt. Für die Aus- und Einfahrt in den 57 Kilometer langen GotthardTunnel beispielsweise reicht die Simulation eines Klimawechsels um zehn Prozent eigentlich nicht aus, denn drinnen hat es auch im Winter gut 30 Grad, während es draußen beißend kalt sein kann. Und: Der Wechsel passiert binnen Minuten, was Gehäuse und Material enorm beansprucht.
Abseits der national und EUweit zwingend vorgeschriebenen Eisenbahntechnik- und Sicherheitsstandards, deren Einhaltung Bahnausrüster wie Siemens, Bombardier, Alstom und Stadler Rail vor nationalen Eisenbahnbehörden mittels umfangreicher Dokumentation nachweisen müssen, verlangen die meisten Eisenbahnunternehmen weitere Qualifikationen. Klima, Heizung und Lüftung gehören inzwischen zu den K.-o.-Kriterien.
Sicherheitsnormen
Signalhorn und Außenbeleuchtung werden sicherheitshalber gleich bei minus zehn Grad getestet. Nicht, dass es in der Schweiz, wo der Stadler’sche Hochgeschwindigkeitszug „Smile“überwiegend unterwegs sein wird, winters ständig so kalt wäre. Aber sicher ist sicher.
Getestet wird bei RTA im Schichtbetrieb rund um die Uhr. Denn Klimasimulationen brauchen viel Energie, gehen ins Geld. Jeder Tag kostet – je nach Energieaufwand – ab 5500 Euro aufwärts. Die Seitenwände im Klimakanal etwa sind mit hunderten Scheinwerfern á 1000 Watt bestückt, um Sonneneinstrahlung wie an einem Hochsommernachmittag zu simulieren. Für die Klimaanlage des Reisezugs bedeutet das: Stress. Denn zur Hitze von außen kommen Erwärmung und Feuchtigkeit durch die Fahrgäste. Eine sitzende Person gibt im Schnitt 120 Watt Energie ab, rechnet Gabriel vor. Selbst wenn hundert Personen zusteigen, sind 22 Grad Raumtemperatur zu halten.
Stress stellen Typ- und Betriebsgenehmigungen auch für die Fahrzeughersteller dar. Auf 18,5 Millionen Franken (15,8 Mio. Euro) taxiert Stadler Rail die Kosten für die von SBB verlangte Vierfach-Zulassung für die Länder Schweiz, Deutschland, Italien und Österreich. Die Tests und Verfahren dauern rund eineinhalb Jahre. Das dürfte sich auch unter der EU-Eisenbahnagentur Era so schnell nicht ändern.