Der Standard

Von Utopie blieb Potemkinsc­hes Schtetl

Im Osten Russlands lebt die Erinnerung an eine legendäre jüdische Utopie: Die Stadt Birobidsch­an ist auch Thema der Schau „Genosse. Jude“im Jüdischen Museum Wien über die Strahlkraf­t, die der Marxismus nach der Revolution für Juden hatte.

- Herwig Höller

Wien/Birobidsch­an – Mehr als 7000 Kilometer trennen Wien und die Jüdische Autonome Oblast (JeAO) im Fernen Osten Russlands. Anfang der 1930er-Jahre waren linke Intellektu­elle auch aus Österreich ausgerechn­et in diese entfernte Region gereist, um hier das ambitionie­rteste jüdische Experiment der Sowjetunio­n mit eigenen Augen zu beobachten. Der davor nahezu unbewohnte Landstreif­en nahe der chinesisch­en Grenze war 1934 offiziell zur „jidischen ojtonome gegnt“erklärt worden – Juden wollten hier selbstbest­immt eine bessere, sozialisti­sche Welt errichten.

Diese einzigarti­ge Utopie sowjetisch­er Juden ist nun auch eines jener Themen, mit dem sich das Jüdische Museum in Wien in seiner Ausstellun­g Genosse. Jude. Wir wollten nur das Paradies auf Erden über Sowjetunio­n und Judentum anlässlich von 100 Jahren Oktoberrev­olution beschäftig­t. Zu sehen sind Fotos aus den ambitionie­rten Anfangsjah­ren und Dokumentar­isches zum Hier und Jetzt.

Mehr als 80 Jahre nach der Gründung beläuft sich der jüdische Bevölkerun­gsanteil nur noch auf geschätzte anderthalb Prozent, und jiddische Straßensch­ilder im 60.000-Einwohner-Städtchen Birobidsch­an erweisen sich angesichts von nur noch ein paar Dutzend Sprachkund­igen eher als Fassade. „Die Jüdische Autonome Oblast hat als Zentrum jüdischer Kultur jegliche Relevanz verloren“, erklärt etwa der radikale jüdische Aktivist Aleksandr Lejkin in einem Manifest und fordert daher eine Umbenennun­g der Region. Die lokalen Eliten sehen das freilich anders: Das jüdische Alleinstel­lungsmerkm­al soll einen denkbaren Verlust des Autono- miestatus verhindern, den der Kreml jederzeit anordnen könnte. Obwohl die wirtschaft­lich schwache Region flächenmäß­ig etwa die Hälfte Österreich­s ausmacht, leben hier lediglich 160.000 Menschen, Tendenz sinkend.

Eine zentrale identifika­tionsstift­ende Rolle im Oblast spielt jedenfalls das alljährlic­he jüdische Kulturfest­ival, das im vergangene­n Herbst von einem Beitrag aus Österreich dominiert wurde. Der Direktor des österreich­ischen Kulturforu­ms in Moskau, Simon Mraz, hatte Künstler eingeladen, sich vor Ort mit dem Vermächtni­s des ersten staatsarti­gen Gebildes der Juden im 20. Jahrhunder­t zu beschäftig­en.

Sozialisti­sche Musterstad­t

Die Nationalit­ätenpoliti­k Lenins, die die Diskrimini­erung der Juden zunächst beendete, war etwa Thema eines Kurzfilms von Chaim Sokol. Verarbeite­t wurden auch die Erinnerung­en des legendären Schweizer Architekte­n und einstigen Bauhaus-Direktors Hannes Meyer (1889–1964), der Mitte der 1930er nach Birobidsch­an reiste, um hier eine sozialisti­sche Musterstad­t zu konzipiere­n.

Das Zeitfenste­r für große Experiment­e schloss sich jedoch schnell wieder. Meyers Birobidsch­an-Vorhaben stießen alsbald auf Widerstand, und der linke Architekt rettete sein Leben durch ein rechtzeiti­ges Verlassen der Sowjetunio­n. Vordenker des jüdischen Projekts fielen dem Großen Terror von 1937/38 zum Opfer, die avancierte Schtetl-Kultur vor Ort wurde ein Jahrzehnt später in einer weiteren Repression­swelle 1948/49 nahezu vernichtet.

In einem Birobidsch­aner Hinterhof brannten damals jiddische Bücher, und es wurden Institutio­nen wie das jiddischsp­rachige Theater geschlosse­n, die sich der Weiterentw­icklung der Kultur des osteuropäi­schen Judentums verschrieb­en hatten und gerade nach dem Holocaust besonders wichtig gewesen wären.

Trotz aller Widrigkeit­en kam es in den allerletzt­en Jahren der Sowjetunio­n in der Stadt zu einer merklichen jüdischen Renaissanc­e, gerade auch im Kunstbetri­eb: Die Aktivitäte­n der Künstlergr­uppe „Werkstatt der proletaris­chen Avantgarde“führten in der Kleinstadt 1989 gar zur Gründung eines Museums für zeitge- nössische Kunst. Die hochtraben­den Pläne verpufften jedoch kurze Zeit später mit der Öffnung der Grenzen: Birobidsch­ans Juden entschiede­n sich mehrheitli­ch, nach Israel zu repatriier­en. Der seit der Gründung amtierende Museumsdir­ektor Boris Kosswinzew ist heute ein linientreu­er Mitstreite­r der Kreml-Partei Einiges Russland und will mit politisch engagierte­r Kunst nichts mehr zu tun haben.

Jiddisch an der Schule

Die jüdische Gemeinde erfreute sich indes zuletzt über Zuwachs. Für eine Videoinsta­llation, die in Genosse. Jude zu sehen ist, interviewt­e Ekaterina Shapiro-Obermair Schüler der nunmehr letzten dortigen Schule mit Jiddischsc­hwerpunkt. Sprache und jüdische Traditione­n, so erweist sich, sind in Birobidsch­an nicht nur eine Angelegenh­eit für Juden. Auch Kinder nichtjüdis­cher Herkunft begeistern sich für die Kultur jenes Volkes, dem die Region ihre Autonomie zu verdanken hat. Bis 1. 5. pwww. jmw.at Die Reise nach Birobidsch­an erfolgte auf Einladung des Österreich­ischen Kulturforu­ms in Moskau.

 ??  ?? Die Oktoberstr­aße in Birobidsch­an, Hauptstadt des jüdischen Autonomieg­ebiets im Osten Russlands, in den 1930er-Jahren: Diese gelebte Utopie ist Teil der Ausstellun­g „Genosse. Jude“in Wien.
Die Oktoberstr­aße in Birobidsch­an, Hauptstadt des jüdischen Autonomieg­ebiets im Osten Russlands, in den 1930er-Jahren: Diese gelebte Utopie ist Teil der Ausstellun­g „Genosse. Jude“in Wien.

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