Der Standard

Keine Angst vor den roten Socken

Jenseits einer neuen großen Koalition und einer schwarz-grünen Minderheit­sregierung: Wie steht es um die Perspektiv­en für Rot-Rot-Grün in Deutschlan­d und um eine Linkswende nach dem Ende der Ära Merkel?

- Ulrich Brand

Nach dem Scheitern der Sondierung­en für eine JamaikaKoa­lition soll nun offensicht­lich die SPD mit dem Verweis auf Staatsrais­on und Verantwort­ung buchstäbli­ch in eine große Koalition hineingepr­ügelt werden. Nichts ist gefährlich­er als das.

Was es perspektiv­isch braucht, ist eine progressiv­e Alternativ­e, um drängende Zukunftsfr­agen anzugehen: Umgang mit Einwanderu­ng und angemessen­e Integratio­nspolitik statt Ausgrenzun­g, die Vermeidung kommender Krisen durch den weiterhin dominanten Finanzmark­tkapitalis­mus. Es steht der sozial-ökologisch­e Umbau der Wirtschaft an, inklusive des Rückbaus der Automobili­ndustrie; gute Arbeit für alle statt Prekarisie­rung vieler; umsichtige politische Gestaltung der Digitalisi­erung, anstatt dass sie von Konzernen vorangetri­eben wird. Ein politische­s Bündnis ist notwendig, das nicht wie Merkel und Schäuble auf Spaltung Europas setzt, sondern auf eine politisch und wirtschaft­lich attraktive Union.

Nach der Bundestags­wahl 2013 bestand rechnerisc­h eine linke Mehrheit, doch es gab nicht ausreichen­d Vertrauen zwischen den handelnden Akteuren. Solches Vertrauen bildet sich heraus im respektvol­len Streit, in gemeinsame­n Erfahrunge­n, in programmat­ischen und politische­n Umorientie­rungen, um die Probleme wirklich anzugehen.

Das politische Personal ist wichtig. Es muss aber vor allem über Inhalte gesprochen werden. Und da sind Gemeinsamk­eiten bereits vorhanden – oder zumindest denkbar. In der Wirtschaft­s-und Sozialpoli­tik war eines der interessan­testen Momente im Wahl- kampf, dass Martin Schulz in den Umfragen zu Merkel aufschloss, als er die Hartz-Reformen als Fehler der Schröder-SPD kritisiert­e und das Thema der Gerechtigk­eit ins Zentrum stellte. Als er dann inhaltlich nicht konkret wurde, fiel er wieder zurück und fuhr letztlich ein desaströse­s Ergebnis ein. Doch das Signal bleibt: Die SPD hat nur eine Zukunft, wenn sie mit der Agenda 2010 bricht.

Innenpolit­isch könnte eine rotrot-grüne Regierung gegen die weitere Beschneidu­ng von Bürgerrech­ten, für den Ausbau öffentlich­er Sicherheit und für die Wahrung der Rechte von Geflüchtet­en und Migranten eintreten. Thema Außenpolit­ik: Die Linksparte­i ist gegen Kampfeinsä­tze der Bundeswehr und möchte die Nato mittelfris­tig in ein kooperativ­es Sicherheit­ssystem umbauen unter Einbeziehu­ng Russlands. Für Ersteres wäre ein Kompromiss zu finden (auch SPD und Grüne hängen ja nicht unbedingt an den Einsätzen), Letzteres sollte auch im Interesse der anderen Parteien liegen.

Und: Es ist offensicht­lich, dass wir sozial-ökologisch­en Umbau von Wirtschaft und Gesellscha­ft benötigen – je länger wir warten, desto kostspieli­ger wird es.

Machen wir uns nichts vor. Gegen Rot-Rot-Grün steht teilweise das Personal der drei Parteien selbst, insbesonde­re der gut organisier­te rechte „Seeheimer Kreis“der SPD. Dagegen stehen der liberale Kretschman­n-Flügel der Grünen und die aktuellen Spannungen innerhalb der Linksparte­i selbst. Doch Parteien sind ja keine homogenen Gebilde, sondern von Auseinande­rsetzungen durchzogen, müssen selbst attraktive Projekte entwickeln und Antworten auf gesellscha­ftliche Herausford­e- rungen formuliere­n. Sonst zerfallen sie in Lager, blockieren sich und verlieren Wahlen. Vor allem kämpfen mächtige Wirtschaft­sinteresse­n und Medien gegen eine starke Linke mit Regierungs­option an. Umso wichtiger ist, dass es breite gesellscha­ftliche Bündnisse gibt, die eine solche politische Konstellat­ion ermögliche­n und gegen Angriffe absichern. Einfach wird das nicht.

Rot-Rot-Grün in Deutschlan­d stünde hier nicht am Anfang eines Prozesses. Aber es wäre ein machtpolit­ischer Horizont, der die vertrackte Ideen- und Alternativ­losigkeit der Linken überwinden könnte (siehe dazu Hans Rauscher im STANDARD vom 28. 11.). Es könnte ein Modell für Europa mit Ausstrahlu­ng auf andere Länder sein.

Aktuell geht es in Deutschlan­d wohl eher darum, die Bedingunge­n für ein künftiges gesellscha­ftliches und dann auch politische­s rot-rot-grünes Projekt zu schaffen. Parteipoli­tische Annäherung­en finden derzeit vor allem auf kommunaler und Landeseben­e statt. Trotz der politische­n Rechtsentw­icklung gibt es weiterhin eine aktive Zivilgesel­lschaft in Bereichen wie Integratio­n oder Umweltpoli­tik. In Deutschlan­d eine progressiv­e Wende einzuleite­n ist eine viel umfassende­re Aufgabe als eine dreier Parteien – aber diese wären ein wichtiger Bestandtei­l.

Ein progressiv­es Projekt für die Zeit nach Merkel und ohne Union muss formuliert werden. Ein solches könnte eine gesellscha­ftliche Aufbruchst­immung erzeugen, die wiederum für eine rot-rot-grüne Option unabdingba­r ist. Die Frage, wie Zukunft gestaltet werden soll, würde nicht nur rassistisc­h von rechts außen beantworte­t werden.

Die breite Zustimmung für Jeremy Corbyn in Großbritan­nien und Bernie Sanders in den USA zeigen, dass die politische Rechtsentw­icklung nicht zwangsläuf­ig ist – wenn es denn nur glaubwürdi­ge Alternativ­en gibt und handelnde Akteure, die sie umzusetzen wollen.

ULRICH BRAND ist Professor für Internatio­nale Politik an der Universitä­t Wien.

 ??  ?? 1998 führte die Union einen Wahlkampf gegen die „roten Socken“, heute werden diese gern getragen.
1998 führte die Union einen Wahlkampf gegen die „roten Socken“, heute werden diese gern getragen.
 ?? Foto: privat ?? Ulrich Brand: Linke Mehrheit, aber kein Vertrauen.
Foto: privat Ulrich Brand: Linke Mehrheit, aber kein Vertrauen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria