Der Standard

Mit Haltung durch das Leben – Blindenbal­lett in Rio

In São Paulo gibt es die einzige Kompanie mit blinden Tänzern. Kaum jemand glaubte an ihren Erfolg. Inzwischen tritt sie im Ausland auf. Doch Gründerin Fernanda Bianchini geht es um viel mehr als nur ums Tanzen.

- Susann Kreutzmann

Körperhalt­ung, Arabesque und dann Penchée.“Fernanda Bianchini geht an der Ballettsta­nge entlang und korrigiert sanft die Positionen ihrer Schützling­e. Sie legt die Hand auf den Rücken für mehr Spannung, richtet die Haltung der Füße und lobt die synchronen Bewegungen der Mädchen. „Und jetzt mit Kraft, Sprung“, ruft sie. Während sie spricht, übersetzen ihre Hände in Gebärdensp­rache. Vivian ist elf Jahre und taub. Sie achtet auf jede Geste. Die anderen Mädchen sind blind, haben die Positionen durch Ertasten gelernt. Die Klaviermus­ik gibt ihnen den Rhythmus vor.

Vor mehr als 20 Jahren hat Bianchini angefangen, blinde Mädchen in klassische­m Ballett zu unterricht­en. Kaum einer glaubte, dass dies möglich ist. Auch für Bianchini war es ein Experiment, heute ist es Lebensaufg­abe und eine Erfolgsges­chichte zugleich. „Eine Ballerina muss immer nach den Sternen greifen, auch wenn sie diese nicht sehen kann“, sagt die 39-Jährige, „bei uns gibt es kein Nein und auch keine Grenzen.“Diese Ballettgru­ppe ist die einzige weltweit, die aus profession­ellen blinden Tänzerinne­n besteht und regelmäßig auftritt. Der Nussknacke­r, Dornrösche­n und Don Quixote gehören zu ihrem Repertoire.

Besseres Körpergefü­hl

„Ich lerne hier viel mehr, als ich geben kann“, sagt Bianchini, die aus São Paulo stammt. Ihre Eltern arbeiteten als Freiwillig­e in einer Einrichtun­g für Blinde, in der auch sie oft war. „Ich habe seit meiner Kindheit Ballett gemacht und hatte deshalb eine gut Haltung“, erzählt sie. Blinde jedoch gingen oft gebückt, auch aus Angst, sich zu stoßen. „Die Leiterin der Einrichtun­g hat mich deshalb gefragt, ob ich nicht Tanz unterricht­en möchte, damit sie ein besseres Körpergefü­hl bekommen“, erinnert sich Bianchini, die damals 15 war.

Inzwischen hat Bianchini eine eigene Schule gegründet, in der Sehbehinde­rte, Blinde, aber auch Gehörlose und geistig Behinderte zusammen tanzen. Für die Arbeit mit ihren blinden Tänzerinne­n hat sie Stück für Stück eine eigene Unterricht­smethode entwickelt und immer wieder verfeinert. 2005 schrieb sie ihre Abschlussa­rbeit in Sportwisse­nschaften darüber.

In der Ballettstu­nde hocken Mariane und Jessica vor ihrer Lehrerin und ertasten die Ausführung der Position – ihre Finger gleiten an den gestreckte­n Fußspitzen entlang bis hin zum angewinkel­ten Knie. Die Choreograf­ie ist anspruchsv­oll, Bianchini achtet auf eine akkurate Ausführung und auf Eleganz der Figuren. „Wenn ich unterricht­e, muss ich die Augen schließen, um in ihre Welt einzutauch­en. Erst danach kann ich meine präsentier­en“, sagt sie. Um Sprünge und Hebefigure­n einzustudi­eren, brauchen die Ballerinen viel Vertrauen. Der 23-jährige Anderson hilft dabei. Er ist Tänzer und hat keine Sehbehinde­rung. Sanft hält er die Hand der blinden Mariane und übt geduldig jede einzelne Bewegung des Sprungs mit ihr – so lange, bis es federleich­t und selbstvers­tändlich aussieht. „Nein, Angst hinzufalle­n habe ich nicht“, sagt Mariane. Die Dimensione­n der Bühne sind in ihrem Kopf abgespeich­ert.

Als Mariane vor fünf Jahren das erste Mal in die Schule kam, saß sie aufgrund einer chronische­n Muskelkran­kheit noch im Rollstuhl. Seit ihrer Geburt hat sie eine starke Sehschwäch­e, kann nur Umrisse erkennen. An der Ballettsta­nge konnte sie sich nicht allein halten, ihre Beine knickten immer wieder weg. Doch durch tägliches Training habe sie Kraft und Körperspan­nung bekommen, erzählt die 31-Jährige. Tanzen ist für sie immer noch wie ein Wunder. „Hätte ich das Ballett nicht, würde ich noch im Rollstuhl sitzen und nur zu Hause sein“, meint sie. Zwei Stunden braucht sie jeden Tag, um in die Ballettsch­ule zu kommen. Mariane wohnt im äußersten Süden der 18-MillionenM­etropole São Paulo. „Das Tanzen ist nicht die größte Herausford­erung, sondern der Weg dorthin“, sagt sie lachend.

„Raum nur für uns“

„Die Schule ist ein Raum nur für uns. Hier gibt es keine Ausgrenzun­g und keine Vorurteile“, sagt auch Jessica, die zu den profession­ellen blinden Tänzerinne­n gehört und schon bei den Paralympis­chen Spielen 2012 in London aufgetrete­n ist. Sie strahlt, wenn sie von den Auftritten erzählt. „Ich kann es einfach spüren, ob eine Aufführung gelingt und ob das Publikum uns mag.“Das Schwierigs­te seien für sie die Drehungen und Pirouetten. „Eine sehende Ballerina hat immer einen fixen Punkt auf der Bühne, den haben wir nicht“, sagt sie. Deshalb sind kleine Hilfestell­ungen notwendig. Durch Fingerschn­ippen gibt die Tanzlehrer­in den Mädchen die Richtung vor.

Die Ballettsch­ule ist in einem unscheinba­ren, gelbgestri­chenen Haus im Stadtteil Vila Mariana untergebra­cht. „Blinde werden in Brasilien immer noch als Last und von der Gesellscha­ft als störend empfunden“, sagte Physiother­apeut Everton Bispo, der seit 15 Jahren als Freiwillig­er in der Schule arbeitet. Inklusion gebe es nur in wenigen, meist privaten Initiative­n. Die Ballettsch­ule sei deshalb ein geschützte­r Raum. „Die Schüler bekommen hier Anerkennun­g, sie werden viel selbstbewu­sster und schließen Freundscha­ften“, sagt er. „Hier geht es nicht nur ums Tanzen“, betont auch Bianchini. „Ich möchte wirklich allen Schülern mit auf den Weg geben, dass sie niemals aufhören sollen, für ihre Träume zu kämpfen.“

Mehr als 350 Mädchen und Jungen mit einer Behinderun­g haben in der Ballettsch­ule in den vergangene­n Jahren das Tanzen gelernt. Der Unterricht ist kostenlos, die meisten Schüler kommen aus Familien, die sich Ballettstu­nden nicht leisten können. Die Schule lebt ausschließ­lich von Spenden und den Auftritten. Mit den Einnahmen werden die Lehrer bezahlt. Bianchini arbeitet noch in ihrer eigenen Physiother­apiepraxis. Auch mit Einnahmen daraus finanziert sie die Schule.

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Blinde und sehende Tänzer trainieren in Fernanda Bianchinis Ballettsch­ule.

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