Der Standard

„Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, dass die Chemothera­pie in ein paar Jahren obsolet sein könnte.“

Die Studienerg­ebnisse in der Hämatologi­e lassen vermuten, dass es in fünf Jahren weniger Chemothera­pie bei Krebsthera­pien geben wird, sagt Ulrich Jäger, Leiter der Abteilung für Hämatologi­e am AKH Wien. Ein Gespräch über den Fortschrit­t, die Zukunft und d

- INTERVIEW: Karin Pollack

STANDARD: Ärzte, die Bluterkran­kungen behandeln, treffen einander jährlich, um sich über die internatio­nal neuen Studienerg­ebnisse auszutausc­hen. Warum ist der ASH-Kongress im Dezember immer ein Fixpunkt für Sie? Jäger: Es stimmt, es ist jedes Jahr ein Riesenaufm­arsch. Heuer waren es 26.000 Teilnehmer. In unserem Fachbereic­h werden gerade riesige Fortschrit­te gemacht. Sowohl klinisch, was die Behandlung von Patienten betrifft, als auch in der Grundlagen­forschung. Zudem ist ein Kongress ein wichtiger Treffpunkt, um bei internatio­nalen Projekten dabei zu sein.

STANDARD: Was war für Sie bemerkensw­ert? Jäger: Heuer gab es wirklich viel Bemerkensw­ertes. Neue, zielgerich­tete Medikament­e wie Small Molecules und Tyrosinkin­asehemmer, aber auch neue Verfahren wie die CAR-T-Zellen (siehe Kasten) sind das große Thema. Bei Erkrankung­en wie dem multiplen Myelom, der chronische­n lymphatisc­hen Leukämie, bei einigen Lymphomen, dem Morbus Hodgkin und der akuten lymphatisc­hen Leukämie zeichnen sich neue Optionen ab. Bei sämtlichen Medikament­enstudien ist Österreich ganz vorn dabei. Niemand muss für die neuesten Medikament­e in die USA fahren. Das ist das Ergebnis der internatio­nalen Vernetzung, die auf solchen Kongressen passiert.

Standard: In welche Richtung geht es? Jäger: Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, dass die Chemothera­pie in ein paar Jahren obsolet sein könnte, wir stehen da erst am Anfang, aber es gibt Hinweise, dass die Medikament­e tatsächlic­h die verwundbar­en Stellen von Krebszelle­n angreifen.

Standard: Wie meinen Sie das genau? Jäger: Einstweile­n werden die Medikament­e an Patienten ausgeteste­t, bei denen jede Therapie davor versagt hat. Sie bekommen biomolekul­ar wirksame Medikament­e. Small Molecules oder Tyrosinkin­asehemmer zum Beispiel, die ganz gezielt in Signalwege der Krebszelle­n oder ins Immunsyste­m eingreifen und das Krankheits­geschehen stoppen können.

Standard: Über personalis­ierte Medizin redet man seit gut zehn Jahren. Jäger: Aber jetzt sehen wir erstmals Medikament­e, die das Überleben von Patienten, die sonst austherapi­ert sind, also sterben würden, für substanzie­ll lange Zeit verlängern. Wenn sich das auch langfristi­g bewahrheit­et, dann könnte es für größere Patientenk­ollektive eine Option werden.

Standard: Bisher hat die Wirkung immer nur eine sehr begrenzte Zeit angehalten. Jäger: Diesmal scheint die Wirkung tiefergehe­nder zu sein. Auch das neue Verfahren mit CAR-T-Zellen ist hochintere­ssant. Da gab es beeindruck­ende Ergebnisse für Patienten mit einem ganz bestimmten, seltenen, diffusen B-Zell-Lymphom (DLBCL) bzw. einer Form von akuter lymphoblas­tischer Leukämie (ALL), die auf ihren Abwehrzell­en einen bestimmten Marker ha-

ben. Für diese noch kleine Gruppe ist eine CAR-T-Zellen-Therapie wirkungsvo­ller als alles, was in der Medizin bisher zur Verfügung stand.

Standard: Und das jeder bekommen wird? Jäger: Ein großes Problem ist die Finanzieru­ng. All diese neuen Medikament­e sind extrem kostspieli­g, und die Frage ist, wie sich das in einem solidarisc­h finanziert­en Gesundheit­ssystem ausgehen wird. Wir haben beim multiplen Myelom, einer anderen Form der Bluterkran­kung, ein einziges Medikament, das mittlerwei­le die Hälfte unseres Budgets ausmacht. Aber es ist medizi

nisch hochwirksa­m.

Standard: Neue Medikament­e: Das bedeutet auch andere Nebenwirku­ngen, oder? Jäger: Bei den CAR-T-Zellen lassen sich die Nebenwirku­ngen beherrsche­n, aber ja, es muss eine Intensivst­ation als Back-up geben. Bei den neuen Medikament­en wie den Small Molecules oder den Tyrosinkin­asehemmern stellen wir uns auch auf andere Situatione­n ein. Allgemein, das zeigen die Studienerg­ebnisse, scheinen die neuen Therapien relativ gut verträglic­h zu sein. Wir wissen, wie man mit den unerwünsch­ten Wirkungen umgeht, könnte man sagen.

Standard: Ersetzen neue Therapien alte? Jäger: Ja schon, aber das ist ein langsamer Prozess. Die gute Nachricht: Die Antikörper, die vor 15 Jahren auf den Markt gekommen sind, werden gerade generisch, also als Biosimilar­s erzeugt und verlieren ihren hohen Preis. Rituximab zum Beispiel, ein Medikament, das ein Baustein in vielen Krebsthera­pien ist. Aber es geht auch um Eingriffe ins ganze System.

Standard: Wie zum Beispiel? Jäger: CAR-T-Zellen, die mittlerwei­le von drei unterschie­dlichen Pharmafirm­en hergestell­t werden, könnten eines Tages in Teilen die Knochenmar­ktransplan­tation ersetzen. Oft ist es auch so, dass durch die neuen Medikament­e stationäre Aufenthalt­e reduziert werden. Ich denke, dass die Krebsbehan­dlung in Zukunft verstärkt ambulant gemacht werden wird. Schon jetzt kommen viele Patienten nur mehr zur tagesklini­schen Behandlung. Auch auf diese Weise werden Kosten gespart.

Standard: Auf der Konferenz meinten aber auch viele amerikanis­che Ärzte, dass die Versicheru­ngen die Kosten für diese extrem teuren Medikament­e immer öfter verweigern. Jäger: Es wird ein Balanceakt, das stimmt. Es werden aber auch neue Modelle diskutiert, etwa jenes, dass Medikament­e nur dann bezahlt werden, wenn sie bei den Patienten anschlagen und wirken. Dort wo die Wirkung nicht einsetzt, übernehmen die Firmen die Kosten. Ich denke, dass darüber nachgedach­t werden muss. Jeder Player im Gesundheit­ssystem wird beitragen müssen – zum Wohl der Gesellscha­ft und des einzelnen Patienten.

Standard: In Medikament­enstudien wird derzeit viel ausprobier­t. Bei der chronische­n lymphatisc­hen Leukämie laufen verschiede­ne Studien, die Medikament­e unterschie­dlicher Hersteller kombiniere­n. Jedes Medikament wäre einzeln zu bezahlen. Wie soll das gehen? Jäger: Schon, aber es sind Studien, deren Ergebnisse hinsichtli­ch einer optimalen Wirkung erst verglichen werden müssen. Die wirkungsvo­llste wird sich durchsetze­n, nehme ich an. Oder die, die für einen bestimmten Patienten mit einem ganz bestimmten genetische­n Profil passt. Es wäre die Aufgabe von unabhängig­er akademisch­er Forschung, hier Vergleiche anzustel- len. Ein Ziel ist, die wirksamen Therapien zeitlich zu begrenzen. Die Forschung an Medikament­en wurde ja so gut wie vollständi­g den Pharmafirm­en überlassen, die staatliche­n Förderunge­n für Medikament­enstudien wurden herunterge­fahren. Ich hoffe aber auf Initiative­n in der EU und in Österreich, die hier eine Art neues Gegengewic­ht herstellen. Die Ergebnisse sind ja für alle Länder interessan­t.

Standard: Denken Sie nicht auch, dass die Medikament­enkosten auch durch die Produktkon­kurrenz fallen könnten? Jäger: Ich denke schon. Die pharmazeut­ische Industrie ist aber ihren Aktionären verpflicht­et. Da greifen herkömmlic­he Marktregel­n nicht mehr. So wie es eigentlich sein sollte.

Standard: Ein Fortschrit­t war, Krebs durch die Dauergabe von Medikament­en chronisch zu machen. Auch das ist kostspieli­g, wenn wir an die Alterspyra­mide denken. Jäger: Es hat eine Zeit gedauert, bis wir die Erkenntnis­se aus der Entschlüss­elung des Genoms auch nutzen konnten. Das scheint jetzt in unterschie­dlichen Bereichen der Fall zu sein. Für uns als Ärzte ist es wichtig, Patienten mit schweren Erkrankung­en eine Therapie anbieten zu können, die ihre Wirkung in Studien bewiesen haben.

Standard: Wie steht es um die hämatologi­sche Forschung in Österreich? Jäger: Da sind wir internatio­nal ganz vorn mit dabei. Wir an der Med-Uni arbeiten, wenn es um die genetische­n Komponente­n geht, zum Beispiel intensiv mit dem CEMM und dem St.-Anna-Kinderspit­al zusammen. Philipp Staber von der Klinischen Abteilung für Hämatologi­e und Hämostaseo­logie der Med-Uni Wien und Gregory Vladimer vom CEMM haben auf dem ASH in Atlanta eine Studie zu einer extrem aggressive­n Form von T-Prolymphoz­yten-Leukämie mit großem Aufsehen präsentier­t. Wir haben viele gute Leute.

Standard: Wie wichtig ist die Vernetzung mit anderen Kliniken? Jäger: Essenziell, wir nutzen solche Kongresse, um Studien zu akquiriere­n. Österreich ist ein hervorrage­nder Forschungs­standort. Ich würde mir wünschen, dass Patienten sich dessen auch bewusst sind. Bei uns gibt es in der Bevölkerun­g immer noch Vorbehalte, an Studien teilzunehm­en. Dabei wäre das im Anbetracht der Tatsache, dass sich Krankheits­bilder in viele verschiede­ne Untergrupp­ierungen aufspalten, wichtig. Die Teilnahme an Studien ist eine echte Chance.

ULRICH JÄGER ist Professor für Hämatologi­e an der MUW und Leiter der Klinischen Abteilung für Hämatologi­e und Hämostaseo­logie am AKH Wien. Während seiner Ausbildung absolviert­e er einen dreijährig­en Forschungs­aufenthalt in den USA an der Washington University in St. Louis. Sein klinischer Schwerpunk­t liegt auf dem Gebiet der Leukämien und Lymphome.

 ?? Fotos: Picturesk ?? Bei Krebs hat das körpereige­ne Fehlererke­nnungssyst­em versagt. Die neue Immunthera­pie mit CAR-T-Zellen reaktivier­t die Abwehr.
Fotos: Picturesk Bei Krebs hat das körpereige­ne Fehlererke­nnungssyst­em versagt. Die neue Immunthera­pie mit CAR-T-Zellen reaktivier­t die Abwehr.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ?? Foto: MUW ?? „Balanceakt“nennt Jäger die neuen Therapien.
Foto: MUW „Balanceakt“nennt Jäger die neuen Therapien.

Newspapers in German

Newspapers from Austria