Der Standard

Zwischen Anreiz und Armutszeug­nis

Hartz IV trat 2005 in Kraft. Seither bekommen viele Deutsche nur das Nötigste an sozialer Leistung. Viele sehen darin den Antrieb, um Menschen in Jobs zu bringen, andere ein Armutszeug­nis in einem reichen Land.

- Birgit Baumann aus Berlin

Wie gnadenlos deutsche Gründlichk­eit sein kann, hat vor kurzem ein Arbeitslos­er aus Dortmund erfahren. Weil sein „Hartz IV“(korrekt: Leistung nach dem Zweiten Buch Sozialgese­tzbuch) nicht für neue Anschaffun­gen in der Wohnung reichte, setzte sich der 50-Jährige in die City und bettelte.

Sein Pech: Eine Mitarbeite­rin des Jobcenters erkannte ihn. Flugs war die Sozialleis­tung um 270 Euro im Monat gekürzt. Es folgte eine juristisch­e Auseinande­rsetzung um „meldepflic­htige Tätigkeite­n“und Schätzunge­n, wie viel ein Bettler eigentlich einnehme.

Schließlic­h gab es vor Weihnachte­n eine Einigung, der Mann durfte sich 200 Euro monatlich dazubettel­n, die Leistungsk­ürzung wurde rückgängig gemacht. Der Fall aber sorgte bundesweit für Aufsehen und zeigte einmal mehr: Auch zwölf Jahre nach der Einführung von Hartz IV gibt es noch Diskussion­en.

Begonnen hatte alles am 14. März 2003. An diesem Tag hielt der damalige Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD) im Bundestag eine Regierungs­erklärung und kündigte mit folgenden Worten eine umfassende Reform der Sozialleis­tungen an: „Wir werden die Leistungen des Staates kürzen, Eigenveran­twortung fördern und mehr Eigenleist­ung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“

Die Bundesrepu­blik galt damals als „kranker Mann“Europas, vor allem wegen der hohen Ausgaben für die vielen Arbeitslos­en. Ökonomen kritisiert­en seit längerem, dass Arbeitslos­e in einer nicht unkomforta­blen Lage seien. Da es lange Zeit nicht unüppige Sozialleis­tungen gab, waren sie nicht gezwungen, rasch wieder eine Beschäftig­ung anzunehmen.

Das Kanzleramt verloren

Ausgerechn­et der Sozialdemo­krat Schröder griff durch und beauftragt­e den damaligen VW-Manager Peter Hartz mit der „Mutter aller Reformen“. Der Kanzler selbst zahlte dafür einen hohen Preis. Am 1. Jänner 2005 trat Hartz IV in Kraft, bei der Bundestags­wahl im Herbst 2005 verlor Schröder das Kanzleramt an Angela Merkel, die bis heute darin sitzt.

Keinem Sozialdemo­kraten ist die Rückerober­ung gelungen. Ebenso bitter für die SPD: Nicht nur ein Teil der Wähler ging unwiederbr­inglich verloren, sondern auch ein Teil der Genossen. Hartz IV hat die Partei bis ins Mark getroffen. Viele folgten aus Protest gegen die massiven Kürzungen im Sozialbere­ich dem früheren SPDChef Oskar Lafontaine zur Linksparte­i nach.

Noch heute sagen viele, die dann doch der SPD treu geblieben oder neu dazugekomm­en sind, es habe niemals zuvor eine solche Zäsur gegeben.

Es waren nicht nur die Leistungsk­ürzungen, die viele aufregten, sondern auch der Ton, der plötzlich vorherrsch­te. Vielen galten Arbeitslos­e als Schmarotze­r, die bloß faul in der Hängematte liegen wollen.

Mehrere Faktoren

Doch die Zahlen rehabiliti­eren Schröder etwas. Ökonomen verweisen darauf, dass der Anreiz, schneller einen Job anzunehmen, ebenso zum Aufschwung in Deutschlan­d beigetrage­n habe wie die flexiblere­n Arbeitszei­tre- gelungen, die Lohnzurück­haltung und die Stabilisie­rungspolit­ik in der Krise 2009, etwa Kurzarbeit.

„Hartz IV muss weg!“– diese oft gehörte Forderung aus den Anfangsjah­ren wird auch heute noch von den Linken erhoben. Zu den schärfsten Kritikern gehört der Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e, der von der „sozialen Kälte“in einem reichen Land spricht und darauf hinweist, dass viele Menschen, die Hartz IV beziehen, nicht mehr davon wegkommen.

Butterwegg­e war 2017 Kandidat der Linken bei der Bundespräs­identenwah­l. Früher einmal hatte er ein SPD-Parteibuch. In der SPD hingegen herrscht heute weitgehend die Meinung vor, dass man die gesamte Schröder’sche Sozialrefo­rm nicht mehr kippen, aber durchaus in einigen Punkten justieren könne. Im Wahlkampf hatte auch Parteichef Martin Schulz gefordert, etwa das Schonvermö­gen für Hartz-IV-Bezieher anzuheben oder älteren Arbeitslos­en wieder mehr Geld zu geben.

 ??  ?? Die Väter von Hartz IV: Gerhard Schröder (li.), Bundeskanz­ler von 1998 bis 2005, und der frühere VW-Manager Peter Hartz.
Die Väter von Hartz IV: Gerhard Schröder (li.), Bundeskanz­ler von 1998 bis 2005, und der frühere VW-Manager Peter Hartz.

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