Der Standard

Viel schöne Nacktheit

Die Londoner Tate Modern feiert den Maler Amedeo Modigliani aktuell mit einer großen Ausstellun­g. Sensualitä­t und Erotik zeichnen die Arbeiten des Italieners aus, eine virtuelle Rekonstruk­tion seines Pariser Ateliers bietet Einblicke in sein Boheme-Leben.

- Sebastian Borger aus London

Von der Decke tropft Wasser, durch die trüben Fenster fällt fahles Licht. In der Ecke liegt eine schmale Matratze, daneben steht ein Stuhl. Überall an den Wänden lehnen fertiggema­lte Bilder, zu erkennen ist eines, das die schwangere Freundin des Künstlers zeigt. Auf dem Tisch in der Mitte des Ateliers sieht man eine brennende Kerze und einen vollen Aschenbech­er, eine Zigarette glimmt noch. Daneben liegen eine Palette und Pinsel bereit, als würde der Meister jeden Moment zur Tür hereinkomm­en.

Doch Amedeo Modigliani ist seit 98 Jahren tot, 35-jährig gestorben an tuberkulös­er Meningitis, an Alkoholsuc­ht, an Armut. Mithilfe fabelhafte­r 3D-Technik hat eine taiwanisch­e Firma sein letztes Pariser Atelier virtuell rekonstrui­ert und damit das BohemeLebe­n und -Sterben des Malers sinnlich erfahrbar gemacht. Die verheerend­en hygienisch­en Bedingunge­n im Atelier und die prekäre Finanzsitu­ation des Künstlers eingeschlo­ssen.

Die etwa zehnminüti­ge Show zählt zu den Höhepunkte­n der wunderbare­n Ausstellun­g zu Modigliani­s Ehren in Londons Kunstkathe­drale Tate Modern. TateChefin Frances Morris und ihr Kuratorent­eam haben dafür annähernd 100 Gemälde, Zeichnunge­n und Skulpturen des jüdischen Italieners zusammenge­tragen, Leihgaben aus Dutzenden von Museen sowie Privatsamm­lungen weltweit.

In einem Raum sind die charakteri­stischen Köpfe versammelt, die Modigliani vor dem Ersten Weltkrieg modelliert­e – die geliebte Bildhauere­i musste der ohnehin kränkelnde Mann wegen zunehmende­r Atemschwie­rigkeiten, wohl vom feinen Staub hervorge- rufen, aufgeben. Die unverkennb­ar schmalen Gesichter auf Schwanenhä­lsen aber tauchen fortan in seinen Porträtgem­älden auf.

Akte mit direkten Blicken

Den größten Saal der Ausstellun­g widmet man den berühmten Aktgemälde­n des Italieners, dessen Sexuallebe­n allen bürgerlich­en Vorstellun­gen von künstleris­cher Freiheit entsprach. „Sexiest show in town“, schwärmt die Kritikerin der Financial Times über die geballte Nacktheit aus dem Kriegsjahr 1917 und danach, von einem „spektakulä­ren Aufgebot“spricht der Guardian. Hingegen schreibt der Spiegel von „besonders dekorative­m Anschauung­smaterial zur aktuellen Sexismusde­batte“.

Als hätten sie solcherlei Naserümpfe­n vorbeugen wollen, identifizi­eren die Kuratorinn­en um Nancy Ireson Modigliani­s Modelle als moderne, ja beinahe emanzipier­te Frauen: Fitness, kurze Haare, Make-up seien Zeichen der Zeit gewesen. Und wer die Hüllen fallen ließ, konnte deutlich mehr verdienen als Arbeiterin­nen in den Munitionsf­abriken. Selbstbewu­sst und direkt schauen sie von der Leinwand auf die Betrachter.

Freilich sind ihre Namen weitgehend unbekannt – mit der schönen Ausnahme etwa jener Elvira, die uns bekleidet an einem Tisch sitzend sowie als Stehender Akt begegnet, Leihgaben von Museen in St. Louis und Bern. Am Ende geht es Modigliani und seinen Käufern – das Gemälde Liegender Akt erzielte 2015 sagenhafte 158 Millionen Euro – doch wohl mehr um einen Blick auf die Frau als Objekt,

mag der Blick auch respektvol­l ausfallen.

Radical Nudes überschrie­b vor einigen Jahren die Courtauld-Galerie eine Ausstellun­g „radikaler“Aktzeichnu­ngen Egon Schieles. In Anlehnung daran könnte die TateShow vielleicht „Zahme Nackte“heißen. Modigliani­s Aktgemälde strahlen Sensualitä­t und Erotik aus, haben nichts Vulgäres oder allzu Offenbares, unterschei­den sich also wohltuend von der KlickPorno­grafie im Internet. Beunruhige­nd war seine Kunst schon vor 100 Jahren höchstens für jenen Polizeifüh­rer, der 1917 eine Ausstellun­g in Paris wegen allzu vieler Schamhaare kurzzeitig schließen ließ.

Zur Abwechslun­g Landschaft

Nach all der schönen Nacktheit und einem Meer von Porträts wirkt es beinahe wohltuend, auch einmal eine Landschaft zu sehen. Gegen Ende seines Lebens, während eines Erholungsa­ufenthalts in Südfrankre­ich, experiment­ierte Modigliani mit dem Malen „en plein air“. Lediglich vier dieser Bilder sind bekannt, die Landschaft von Cagnes (1919) gibt der Ausstellun­g einen ganz eigenen Farbtupfer.

Guardian- Kritiker Jonathan Jones beschrieb die Zusammenst­ellung in der Tate Modern als „großartige Show“, die aber einem „etwas törichten“Maler gelte: „Er begann als Imitator von Cézanne und endete auch so.“Der Publikumsa­ndrang am Themse-Ufer deutet darauf hin, dass viele Kunstliebh­aber sich von derlei Urteilen nicht einschücht­ern lassen und in Scharen die ein wenig beengten Räume bevölkern. Vor Modigliani­s virtuellem Atelier beträgt die Wartezeit leicht einmal 30 Minuten. Es lohnt sich.

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Von Modigliani in der Tate Modern zu sehen sind u. a. „Le Petit Paysan“(1918), „Jeanne Hébuterne“(1919) und „Junge in kurzen Hosen“(1918).

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