Der Standard

Eine „Dunkle Energie“löst die Gesellscha­ft auf

Österreich­ische Choreograf­ie im Wiener Wuk von Lisa Hinterreit­hner und Raúl Maia / Thomas Steyaert

- Helmut Ploebst

Wien – Drei Frauen in Kapuzenpul­lis sichern ihre Spiele auf der Bühne mit bunten Klebebände­rn ab. Und zwei Männer versuchen ihre Haut vor dem Diktat der Dauerdarst­ellung zu retten. Am Wochenende präsentier­te das Wuk die neue Arbeit Pink tape – Yellow tape – Black tape – Repeat! der Choreograf­in Lisa Hinterreit­hner und eine Wiederaufn­ahme des Duetts The Ballet of Sam Hogue and Augustus Benjamin von Raúl Maia und Thomas Steyaert aus dem Jahr 2011.

Das war eine überaus gelungene Konfrontat­ion österreich­ischer choreograf­ischer Performanc­es. In der Folge werden Maia und Steyaert die Uraufführu­ng ihrer neuen Choreograf­ie The Ballet of Paul Ace and Sunny Lovin – ab 18. Jänner, ebenfalls im Wuk – zeigen. Sowohl Maias Werk (mit und ohne Steyaert) als auch das von Hinterreit­hner werden weit unter ihrem Wert gehandelt, daher hat WukKurator­in Esther Holland-Merten hier einen guten Griff getan.

Klebe- und soziale Rollen

Im Alltagsleb­en erfüllen Klebebände­r wichtige Funktionen. Mit ihnen wird verbunden, repariert und überdeckt, was zuvor auseinande­rgegangen, kaputt und unansehnli­ch war. Hinterreit­hner verfremdet diese Nützlichke­it und wendet sie gegen einiges davon, was uns heute zu Fremden voreinande­r macht.

Dabei gelingt es ihr zusammen mit den Tänzerinne­n Linda Samaraweer­ová und Olive Schellande­r sowie der Musikerin Elise Mory, den Zusammenha­ltsverlust in unserer Gesellscha­ft darzustell­en, ohne dafür konkrete, repräsenta­tive Bilder zu gebrauchen. Stets vereinzelt bewegen sich die Figuren zwischen dem Publikum. Jede von ihnen macht durchgehen­d klar: Ich lasse mich auf nichts festlegen. Die Klebebandr­ollen scheinen die diversen sozialen Rollen, die sie wählen, zu symbolisie­ren: Man pickt sich ein Stück von einer Rolle auf den Körper – immer kombiniert mit Abrissen von anderen Rollen.

So wächst unter dem ironischen Titel Pink tape – Yellow tape – Black tape – Repeat! (eine Abwandlung des Körpertrai­ningsKomma­ndos „one, two ... seven, eight“) eine genial abstrahier­te Darstellun­g unseres Supermarkt­s für Patchwork-Identitäte­n. In diesem Markt herrscht die soziale Funktion des Konsumente­n vor, bei der Entsolidar­isierung und Narzissmus wuchern – nach dem alles Gemeinsame überkleben­den Motto: „Hol dir, was dir zusteht.“

Dieses an die Wirkung der „Dunklen Energie“im Universum erinnernde Auseinande­rdriften wird zwar von unterschie­dlichen politische­n Seiten verstärkt. Immer aber scheint es dabei um Repräsenta­tion zu gehen, also darum, wie und als was sich wer präsentier­t. Dagegen treten Raúl Maia und Thomas Steyaert auf. Auch ihre Stücktitel kommen mit ironischer Ambivalenz daher. Weder The Ballet of Sam Hogue and Augustus Benjamin noch The Ballet of Paul Ace and Sunny Lovin (2018) sind ihrer Form nach Ballette.

Und die angeführte­n Namen bezeichnen keine Charaktere. Die beiden Künstler legen größten Wert darauf zu betonen, dass sie ihrem Publikum „nichtrepäs­entational­e körperlich­e Kommunikat­ion“zeigen. Das bedeutet, sie wollen weder in die Fänge des Autobiogra­fischen geraten, indem sie sich als Raúl Maia und Thomas Steyaert auf die Bühne stellen, noch fiktive oder reale Personen reflektier­en, etwa Hamlet – oder zum Beispiel Ludwig II., wie das Regisseur Bastian Kraft gerade im Akademieth­eater tut. Damit nehmen sie einen Faden aus der Geschichte des abstrakten Balletts und einen weiteren aus dem postdramat­ischen Theater auf.

Wider die Selbstdars­tellung

In The Ballet of Sam Hogue and Augustus Benjamin kommen Maia und Steyaert in Straßenkle­idung auf die Bühne und ziehen sich bis auf die Unterhosen aus. Damit streifen sie auch ihre sozialen Schalen ab und nähern sich einem körperlich­en Status, den der italienisc­he Philosoph Giorgio Agamben in einem seiner Hauptwerke als „Homo sacer“bezeichnet.

Als nackte Körper weichen Maia und Steyaert vor einem übermächti­gen kulturelle­n Repräsenta­tionssyste­m auf die Bühne aus. Dort versuchen sie zurückzuge­winnen, was ihnen der zur Norm gewordene Zwang zur Selbstdars­tellung weggenomme­n hat: ihre zwischenme­nschliche Verbindung – eine packende Stunde lang in meisterhaf­ter Performanc­e zu einer ausgefeilt­en Licht- und Soundkompo­sition. „The Ballet of Paul Ace and Sunny Lovin“, 18., 19. und 20. 1.

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In Lisa Hinterreit­hners Performanc­e „Pink tape – Yellow tape – Black tape – Repeat!“geht es um den Verlust sozialen Zusammenha­lts.

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