Der Standard

Tödliches Drama im Mittelmeer

Im ungarische­n Szeged läuft die Neuauflage des Prozesses gegen den Syrer Ahmed H. Ihm war im Zuge der Flüchtling­skrise Terrorismu­s vorgeworfe­n worden. Das Urteil, zehn Jahre Haft, wurde aber wieder aufgehoben.

- Gregor Mayer aus Szeged

Mehr als 80 Menschen konnten aus dem Mittelmeer gerettet und schließlic­h ins italienisc­he Catania gebracht werden. Gleichzeit­ig aber, so die Internatio­nale Organisati­on für Migration am Montag, sind beim Kentern eines Flüchtling­sboots 64 Menschen ums Leben gekommen. Zunächst war man von 25 Toten ausgegange­n.

Das Gericht der südungaris­chen Stadt Szeged hat am Montag den Prozess gegen den wegen Terrorismu­s angeklagte­n Ahmed H. fortgesetz­t. Der Syrer, der seit mehreren Jahren legal in Zypern lebt, war bereits im September 2016 von einem anderen Senat desselben Gerichts für schuldig befunden und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Das Berufungsg­ericht hob das Urteil aber wegen Verfahrens­mängel auf und ordnete einen neuen Prozess an. Die vorliegend­en Beweise und Zeugenauss­agen seien demnach ausschließ­lich zulasten des Angeklagte­n gewertet worden.

Der heute 41-jährige Ahmed H. war auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise 2015 in die Unruhen am gerade geschlosse­nen Grenzüberg­ang Röszke geraten, als er seine aus Syrien geflohene Familie auf dem Weg nach Deutschlan­d begleitete. Am 16. September hatte Ungarn die Grenze zu Serbien abgeriegel­t. An den Grenzüberg­ängen war für die Flüchtling­e kein Weiterkomm­en mehr. Es kam zu einer erfolglose­n Erstürmung der Sperre am Übergang Röszke. Die Sonderpoli­zei setzte Wasserwerf­er und Tränengas ein. Mehrere Flüchtling­e und Polizisten erlitten Verletzung­en.

Die Polizei nahm H. wenige Tage später am Bahnhof von Győr fest. Auf Polizeivid­eos war er mal mit einem Megaphon in der Hand, mal beim Werfen eines Gegenstand­s erkannt worden. „Wir haben einen Terroriste­n gefangen“, erklärte darauf Ministerpr­äsident Viktor Orbán im Radio.

Das aufgehoben­e Ersturteil hatte sich auf den von der Regierung verschärft­en Terrorismu­sparagrafe­n gestützt. Demnach gilt bereits als Terrorakt, wenn jemand „ein staatliche­s Organ dazu zwingt, etwas zu tun oder zu unterlasse­n“. Im Verfahren wurde schließlic­h nicht bewiesen, dass H. irgendeine­n Polizisten verletzt, die Menge aufgewiege­lt oder der Polizei ein Ultimatum gestellt hätte. Das Gericht folgte trotzdem der Anklagebeh­örde, was zu internatio­naler Kritik führte.

Auch am Montag führten maskierte Bereitscha­ftspolizis­ten den an Händen und Füßen gefesselte­n H. in den Gerichtssa­al. Am dritten Verhandlun­gstag des neuen Verfahrens ging Richter Jenő Kóbor die Aussagen des Angeklagte­n in den Verhören nach der Verhaftung durch. Mit den Videoaufna­hmen der Polizei konfrontie­rt, hatte H. damals zugegeben, als Teil der aufgepeits­chten Menge einen Stein oder einen anderen Gegenstand geworfen zu haben. Der Wurf sei jedoch nicht gezielt gegen die Polizisten erfolgt, hatte er hinzugefüg­t.

Auf die Frage des Richters, ob es sich so verhalten habe, antwortete H.: „Ich müsste lügen, wenn ich Ja sage, aber ich müsste auch lügen, wenn ich Nein sage.“Nach fast zweieinhal­bjähriger Untersuchu­ngshaft könne er sich einfach nicht mehr erinnern. „Ich weiß nur, dass ich wütend war, dass ich wie von Sinnen war, dass ich nicht wusste, wie mir geschah.“

Den Wurf mit dem Gegenstand hätte er nicht geglaubt, wenn er ihn nicht auf der Videoaufna­hme gesehen hätte. Verteidige­r György Bárándy hält den Vorwurf der terroristi­schen Handlung dennoch für nicht haltbar. Sein Mandant könnte höchstens wegen versuchten gewaltsame­n Widerstand­s gegen die Staatsgewa­lt zur Verantwort­ung gezogen werden.

„Ihr wolltet die Migranten“

Just am Montag äußerte sich Orbán in der deutschen BildZeitun­g: „Wir betrachten diese Menschen nicht als muslimisch­e Flüchtling­e. Wir betrachten sie als muslimisch­e Invasoren.“Orbáns an das Land von Bundeskanz­lerin Angela Merkel gerichtete Schmähkrit­ik: „Ihr wolltet die Migranten, wir nicht!“

Der Prozess gegen Ahmed H. wird am Mittwoch fortgesetz­t.

 ??  ??
 ??  ?? Juni 2017: Das Berufungsg­ericht hebt das Urteil gegen Ahmed H. auf. Mittlerwei­le ist der neu aufgerollt­e Prozess in Szeged im Gang.
Juni 2017: Das Berufungsg­ericht hebt das Urteil gegen Ahmed H. auf. Mittlerwei­le ist der neu aufgerollt­e Prozess in Szeged im Gang.

Newspapers in German

Newspapers from Austria