Der Standard

Im digitalen Fight Club

Unsere Gesellscha­ft driftet auseinande­r – und das Internet trägt Mitschuld daran. Einer der stärksten Treiber dieses Trends ist die Digitalisi­erung mit ihren tiefgreife­nden Auswirkung­en auf Arbeitsund Lebenswelt­en.

- Bettina Fernsebner-Kokert Walter Osztovics

Ist es nicht großartig, wie Facebook, Twitter und all die anderen Plauder-Plattforme­n Raum und Zeit überwinden? Wir können jederzeit und überall mit Freunden (Pardon: „friends“) in New York, Schanghai oder Potzneusie­dl kommunizie­ren, die ganze Welt ist ein Nachbarsch­aftscafé geworden, in dem alle am selben Tisch sitzen.

Na ja, nicht ganz. Bei genauem Hinsehen sind es viele kleine Tischrunde­n, und sie rücken sogar immer weiter voneinande­r ab. Stimmt schon, dass die Digitalisi­erung neue Verbindung­en schafft, bisher undenkbare Vernetzung­en ermöglicht und bei der Planung des Familienal­ltags ebenso hilft wie beim Organisier­en von politische­n Initiative­n. Doch mindestens ebenso stark ist ihre entzweiend­e Kraft. In den sozialen Medien entstehen Gruppen, die sich im Inneren gut verstehen, nach außen aber abgrenzen. Wenn einmal ein Posting eines Andersdenk­enden in eine solche Echokammer eindringt, löst es Abwehrreak­tionen aus, die in ihrer emotionale­n Heftigkeit fast schon an Stammesfeh­den erinnern.

Allenthalb­en Konflikte

Soziale Medien als Faktor für das Auseinande­rdriften der Gesellscha­ft: Das ist einer der Befunde der Arena-Analyse 2018 – „Wir und die anderen“. Diese Studie, die das Beratungsu­nternehmen Kovar & Partners jedes Jahr in Kooperatio­n mit STANDARD und Zeit durchführt, versucht Entwicklun­gen aufzuspüre­n, die in unmittelba­rer Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden. Dass gesellscha­ftlicher Zusammenha­lt schwindet, ist in den Augen des beteiligte­n Experten-Panels eine der größten aktuellen Herausford­erungen. Das Phänomen hat viele Gesichter – die drohende Desintegra­tion der EU, der Zerfall von Nationalst­aaten mit separatist­ischen Regionen, Konflikte zwischen Stadt und Land oder Peripherie und Zentrum, wachsende Verständni­slosigkeit zwischen Gruppen mit ethnisch oder kulturell unterschie­dlichem Hintergrun­d.

Einer der stärksten Treiber der beunruhige­nden Entfremdun­g ist die Digitalisi­erung mit ihren tiefgreife­nden Auswirkung­en auf die Arbeits- und die Lebenswelt­en. Man muss gar nicht erst den pessimisti­schen Prognosen Glauben schenken, wonach Rechner und Roboter zwei Drittel der Menschheit arbeitslos machen werden. Aber dass es bald keine Lagerarbei­ter mehr und kaum noch Supermarkt­kassiereri­nnen geben wird, dass der klassische Typ des Bank- und Versicheru­ngsangeste­llten verschwind­et und auch die Lkws demnächst ohne Fahrer rollen werden – das ist für fast jedermann offensicht­lich. Selbst wenn mehr neue Berufsfeld­er entstehen, als alte verschwind­en, wird das bedeuten, dass immer mehr Menschen aus einem Job gerissen werden, in dem sie gut waren, und sich in einem neuen zurechtfin­den müssen, für den sie erst die nötige Qualifikat­ion erwerben müssen.

Die Arbeitswel­t 4.0 könnte massive neue Formen der Ungerechti­gkeit mit sich bringen und, wenn sie nicht entspreche­nd weitblicke­nd gestaltet wird, sogar ein neues Cyberprole­tariat erzeugen, eine Parallelge­sellschaft der Abgehängte­n, die mit dem Fortschrit­t der Wissensges­ellschaft nicht Schritt halten konnten. Immerhin ist das Problem auch bereits in der Politik angekommen, der Bundesrat wird das Thema „Digitale Zukunft sozial gerecht gestalten“sogar zum Schwerpunk­t des nächsten halben Jahres machen.

Das ist deshalb wichtig, weil noch schneller als die tatsächlic­he Ungleichhe­it die Angst vor ihr zunimmt. Auch dies ist ein Ergebnis der Arena-Analyse: Es reicht nicht, auf Wirtschaft­swachstum und positive Arbeitsmar­ktdaten zu setzen, es geht ebenso darum, den Kampf gegen Ängste und die gefühlte Ungleichhe­it aufzunehme­n. Denn die diffuse Verunsi- cherung setzt eine Spirale der Entzweiung in Gang: Angst führt zu Neid und Verteilung­skonflikte­n, daraus entstehen Antagonism­en zwischen Gruppen, die sich jeweils enger zusammensc­hließen und nach außen abschotten.

Im Internet fallen dann die Angehörige­n des digitalen Fight Club übereinand­er her, was sogar den US-Ex-Präsidente­n Barack Obama zu drastische­n Mahnungen greifen ließ. In einem BBCHörfunk­gespräch mit Prinz Harry warnte Obama vor den polarisier­enden Wirkungen der sozialen Medien, die zu einer „Balkanisie­rung der Gesellscha­ft“führen könnten. Wenn wir nicht aufpassen, sagte er, leben wir bald alle in „fragmentie­rten Realitäten“. Das war natürlich auch ein Seitenhieb auf seinen manisch twitternde­n Nachfolger, doch betrifft diese Zersplitte­rung die Gesellscha­ft als Ganzes.

Zusammenha­lt versuchen

Lässt sich die österreich­ische, die europäisch­e Gesellscha­ft angesichts solcher Zentrifuga­lkräfte überhaupt noch zusammenha­lten? Wir müssen es jedenfalls versuchen, meint das Arena-AnalyseExp­ertenpanel, denn ohne Kohäsion kann eine menschlich­e Gemeinscha­ft nicht funktionie­ren. Abhilfe schaffen zwei überrasche­nd einfache Mittel: Zum einen Bildung, denn die überwindet nicht nur das Handikap der schlechten Qualifikat­ion, sondern schafft auch Perspektiv­en. Und zum anderen die Arbeit einer Zivilgesel­lschaft, die Menschen in der realen Welt zusammenbr­ingt – nicht selten wurden sogar Hassposter friedvoll und einsichtig, sobald sie dem Feind einmal von Angesicht zu Angesicht begegnet waren und mit ihm Kaffee getrunken hatten.

Schließlic­h gilt bis heute der berühmte Satz, der dem englischen Schriftste­ller John Donne angesichts der Zerrissenh­eit seines Landes im 17. Jahrhunder­t aus der Feder floss: „No man is an island entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main.“

BETTINA FERNSEBNER-KOKERT und WALTER OSZTOVICS sind als Berater für Kovar & Partners tätig. Die Arena-Analyse 2018 „Wir und die anderen“ist eine qualitativ­e Studie zur Früherkenn­ung von gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen, die auf Beiträgen und Tiefeninte­rviews von rund 50 Expertinne­n und Experten beruht. Sie erscheint am 23. Jänner.

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Social Media fest im Blick: In den sozialen Medien entstehen Gruppen, die sich im Inneren gut verstehen, nach außen aber abgrenzen.

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