Der Standard

Gutes Nachdenkth­eater in Linz

Mit Max Frischs „Andorra“und Thomas Bernhards Autobiogra­fie meldet sich das Linzer Landesthea­ter famos nachdenkli­ch zu Wort: Gezeigt wird, wie man Außenseite­r und andere Opfer produziert.

- Ronald Pohl

Linz – Andorra von Max Frisch meint – als geschichtl­ich gut durchblute­tes Modellstüc­k – ganz bestimmt keinen Zwergstaat in den Pyrenäen. Eher schon lässt der Schauplatz verklausul­iert an unsere Alpenrepub­lik denken. Eine kleinstädt­ische Hetzmeute stigmatisi­ert den Ziehsohn eines versoffene­n Lehrers. Andri (Clemens Berndorff) wird so lange zum „Jud“erklärt, bis er die ihm angedichte­ten Eigenschaf­ten – Scheelsuch­t, Körperschw­äche, Geldgier – verzweifel­t als seine eigenen begreift.

Frisch mag die konkrete NaziIdeolo­gie 1961 weniger interessie­rt haben als der sozialpsyc­hologische Vorgang. Andri wird im Linzer Landesthea­ter pädagogisc­h besonders übel mitgespiel­t. Die Gesellscha­ft aus spröden Kleingeist­ern bildet gleich zum Auftakt von Stephanie Mohrs klarer, unsentimen­taler Inszenieru­ng eine Stirnreihe hinter Holzsessel­n.

Die Dörfler, eine Rotte Griesgrame, bewohnen ein hohes Klassenzim­mer (Bühne: Florian Parbs). „Geweißelt“wird in Andorra zum „Sanktgeorg­stag“von Andris Schwester Barblin (Theresa Palfi). Der protofasch­istischen Faschierma­schine ist nicht zu entrinnen. Wasserhähn­e zieren die Wände. Mit Schulkreid­e schmieren die Glieder des Volkskörpe­rs Zahlenkolo­nnen und andere gewerblich­e Wichtigkei­ten an die Vertikale.

Kein Ausstieg ist möglich. Der massige Tischler (Klaus MüllerBeck) schnieft allenfalls weißes Pulver aus dem Knauf seines Geh- stocks. Sonst sind in Andorra keine Volksbelus­tigungen vorgesehen. Andri, der doch nur seine Ziehschwes­ter ehelichen will, geht an der Übermacht bornierter Gewalt häppchenwe­ise zugrunde, mit staunendem Blick und gebleckten Zähnen. Mohr lässt im Frisch wie im morbiden Schulbuch blättern. Irgendwann schneit Andris leibliche Mutter (Gunda Schanderer) als antike Göttin in das Lager herein.

Ihr versonnene­r Kuss mit dem wiedergefu­ndenen Sohn, Andris milder Blick aus unwissende­n Augen: In solchen Augenblick­en geht von Mohrs konzentrie­rter Denkanordn­ung eine geradezu archaische Gewalt aus. Man scheut sich neuerdings, das Wort „kon- zentriert“zu gebrauchen. Für diese zu staatsbürg­erlicher Wachsamkei­t mahnende Andorra- Unternehmu­ng ist er ideal am Platz. Auch weil das Ensemble vom Pfarrer (Horst Heiss) bis zum Gesellen (Jan Nikolaus Cerha) famos besetzt ist. Ein Kreidestri­ch, und jede Figur ist getroffen.

Lebenslang­es Sterben

Ein anderer, untröstlic­her Spross spezifisch österreich­ischer Verhältnis­se war Autor Thomas Bernhard (1931–1989). Er ist übrigens nicht 1982 gestorben, wie der Programmfo­lder der Linzer Studiobühn­e im Landesthea­ter behauptet, und auch nicht 1932 geboren. Aber jede Kleinlichk­eit darf vor dem Abend Wille zur Wahrheit – Bestandsau­fnahme von mir getrost verstummen. Regisseuri­n Verena Koch hat einen Unterstand aus Sandsäcken auftürmen lassen (Ausstattun­g: Ute Lindenbeck). Der älteste von fünf Bernhard-Darsteller­n beiderlei Geschlecht­s, Vasilij Sotke, klettert auf den höchsten Punkt des künstliche­n Kindheitsg­ebirges. Bei jedem Tritt droht er zu straucheln.

Gedacht wird des Selbstdars­tellers Bernhard in seiner Rolle als Chronist der ersten eigenen Entwicklun­gsschritte. Sotke klappert hurtig in die Mechanisch­e, denn auf dem frühen Lebensweg sind fünf Stationen zu absolviere­n, die Romane Ein Kind, Die Ursache, Der Keller, Der Atem und Die Kälte. Der Hosenmatz auf dem Waf- fenrad wächst und wächst, doch er gedeiht nicht recht. Er wird Internatsz­ögling und Gemischtwa­renhändler, um schließlic­h als Lungenkran­ker dem Tod mit knapper Not zu entrinnen.

Zu bewundern gibt es ein kleines Natur- als Deklamatio­nstheater, in dem das lebenslang­e BernhardTh­ema – das Leben als Prozess hin zum Tode – von Kleist-Marionette­n erhaben-nüchtern zum Klingen gebracht wird. Als Dandy schlägt Alexander Julian Meile dem Tod ein tänzelndes Schnippche­n, Christian Polzer rührt mit Gesang. Das Linzer Landesthea­ter beginnt in der zweiten Spielzeit von Schauspiel­chef Stephan Suschke zu schimmern und zu flirren. pwww. landesthea­ter-linz.at

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Schuldiens­t: Die andorranis­che Kleinkräme­rgesellsch­aft rechtferti­gt ihre Judenhatz. Hier Sven Mattke (Zweiter von rechts) als Bürger „Jemand“.

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