Der Standard

SPD zu Gesprächen mit Union bereit

Knappes Votum für Koalitions­verhandlun­gen, Merkel deutet Entgegenko­mmen an

- Birgit Baumann

Bonn – Aufatmen bei der SPD-Spitze – und bei der Bundeskanz­lerin und CDU-Vorsitzend­en Angela Merkel: Die deutschen Sozialdemo­kraten haben sich auf ihrem Parteitag in Bonn für Koalitions­verhandlun­gen mit der Union ausgesproc­hen. 362 Stimmberec­htigte (56,4 Prozent) haben am Sonntag für die Aufnahme von Koalitions­gesprächen gestimmt. Bis zuletzt hatte Parteichef Martin Schulz für eine Zustimmung der Delegierte­n und Vorstandsm­itglieder geworben, nach dem Votum war er sichtbar erleichter­t.

Vor gut einer Woche hatten sich Union und Sozialdemo­kraten auf ein Sondierung­spapier geeinigt, das die Grundlage für Verhandlun­gen über eine Regierung bilden soll. In Teilen der SPD gibt es allerdings große Vorbehalte gegen die Neuauflage des schwarz-roten Bündnisses.

Vor allem der Parteinach­wuchs Jusos hat dagegen massiv Front gemacht. Juso-Chef Kevin Kühnert kritisiert­e die Parteiführ­ung am Sonntag für ihre „wahnsinnig­e Kehrtwende“. Kühnerts Appell für ein Nein der Genossen: „Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riese sein zu können.“

SPD-Fraktionsc­hefin Andrea Nahles entgegnete, die Bürger würden der SPD einen „Vogel zeigen“, wenn sie sich trotz guter Sondierung­sergebniss­e für eine Neuwahl entscheide.

In dem Leitantrag, dem die SPD schlussend­lich zustimmte, wurden in drei Bereichen „konkret wirksame Verbesseru­ngen“gegenüber dem Ergebnis der Sondierung­en gefordert.

So sollen befristete Arbeitsver­hältnisse die Ausnahme sein. Außerdem müsse das Ende der Zweiklasse­nmedizin eingeleite­t und eine „weitergehe­nde Härtefallr­egelung“für den Familienna­chzug von Flüchtling­en gefunden werden. Feste Bedingunge­n für Koalitions­verhandlun­gen wurden aber nicht formuliert. Die Union ist allerdings gegen grund- sätzliche Änderungen der Sondierung­svereinbar­ung, auf die sich beide Seiten am 12. Jänner verständig­t hatten.

Angela Merkel begrüßte den Beschluss der SPD ausdrückli­ch und deutete vages Entgegenko­mmen bei den Gesprächen an: Die Sondierung­sergebniss­e seien nur der „Rahmen“für die Koalitions­verhandlun­gen, sagte die Kanzlerin. Die Gespräche mit CDU und CSU könnten bereits in den kommenden Tagen beginnen und im besten Fall im Februar abgeschlos­sen werden. Danach müssen dem Koalitions­vertrag allerdings noch die rund 440.000 SPD-Mitglieder zustimmen.

Bonn/Berlin – Wie SPD-Chef Martin Schulz in der Nacht auf Sonntag, in der Nacht vor diesem entscheide­nden Parteitag, geschlafen hat, weiß man nicht. Aber die Anspannung ist ihm deutlich anzusehen, als er zum Rednerpult geht, um einmal mehr – und diesmal an einem ganz wichtigen Punkt – für Koalitions­verhandlun­gen mit der Union zu werben.

Zunächst verteidigt er seinen 180-Grad-Schwenk, dass er am Wahlabend gleich einmal in Opposition ging, um nun aber, nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche, doch mit der Union wieder eine große Koalition zu bilden: „Wir haben die Lage nicht angestrebt. Aber wir haben uns der Herausford­erung gestellt.“

Er könne jeden verstehen, der sagt: „Warum vertritt der Schulz jetzt eine andere Position?“Die Antwort gibt er selbst: „Parteien sind kein Selbstzwec­k, sondern dazu da, das Leben der Menschen zu verbessern.“Und: „Wenn wir die Ergebnisse der Sondierung­en ansehen: Wir haben eine Menge erreicht.“

Chance ergreifen

Schulz erwähnt die Rückkehr zur paritätisc­hen Krankenver­sicherung (derzeit zahlen die Arbeitnehm­er mehr als die Arbeitgebe­r), die Stabilisie­rung des Rentennive­aus und die Erhöhung des Kindergeld­es. Er rechnet vor: Eine alleinerzi­ehende Mutter könne im Jahr 340 Euro sparen, ein Facharbeit­er 1100 Euro. „Das ist viel Geld“, ruft Schulz und sagt: „In meinen Augen wäre es fahrlässig, diese Chance jetzt nicht zu ergreifen.“Er bekommt immer wieder Applaus, aber dieser bleibt recht höflich, begeistert ist er nicht. Doch Schulz hat noch mehr im Talon. Er verspricht, schon im März Pläne für die Erneuerung der SPD vorzulegen und dass es nur eine Regierung geben werde, in der gleich viele Männer und Frauen vertreten sein werden. Zudem will er nach zwei Jahren die Arbeit der Koalition bewerten.

Und er hat noch einen letzten Joker, nämlich einen in letzter Minute überarbeit­eten Leitantrag der SPD-Spitze. Auf Druck der GroKoSkept­iker, vor allem jener im mächtigen Landesverb­and Nordrhein-Westfalen, sagen die Spitzengen­ossen nun zu, in Koalitions­verhandlun­gen noch drei Punkte durchzuset­zen, die nicht im Sondierung­spapier stehen: erstens „konkrete Maßnahmen zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin“. Das könnte die Einführung von gleichen Honoraren für Ärzte von Privatpati­enten und gesetzlich Versichert­en sein.

Zweitens, so Schulz, müssten befristete Arbeitsver­hältnisse künftig die Ausnahme sein. Drittens: eine Härtefallr­egelung für den Familienna­chzug von subsidiär Geschützte­n. Schulz: „Da muss sich die Union bewegen. Und ich sage euch ganz klar: Die Härtefallr­egel wird kommen.“

Schulz bittet um Vertrauen

Irgendwann aber ist alles gesagt, Schulz bleibt nur ein Appell: „Es geht um die Frage Koalitions­verhandlun­gen oder Neuwahlen. Ich glaube nicht, dass Neuwahlen für uns der richtige Weg sind. Ich bitte euch um Vertrauen.“

Kurz danach spricht sein innerparte­ilicher Gegenspiel­er, JusoChef Kevin Kühnert, der seit Wo- chen massiv gegen die große Koalition trommelt. Er sieht nach acht Jahren großer Koalition (2005 bis 2009 und 2013 bis 2017) keine gemeinsame Basis mehr mit der Union und die SPD in einer fatalen Rolle: „Wir denken den Kompromiss schon vorweg, wir beschneide­n uns, wir machen uns klein.“

Harsche Kritik übt er am Schwenk von Schulz: „Die wahnwitzig­en Wendungen und Kehrtwende­n unserer Partei seit der Bundestags­wahl haben noch mal mehr Vertrauen gekostet.“Und wenn der Parteitag nun Nein zur GroKo sage – wie er hoffe –, dann gelte, so Kühnert: „Es ist nicht das Ende der Geschichte und nicht das der SPD.“

Im Gegensatz zu Schulz bekommt Kühnert donnernden Applaus. Doch es ist nicht klar, war- um. Sind die GroKo-Gegner in der Überzahl? Oder klatscht die Minderheit einfach so laut? Die einen sagen so, die anderen so. Um 16.15 Uhr lässt Heiko Maas abstimmen. Für den Leitantrag, also für Koalitions­verhandlun­gen über eine große Koalition, sind viele. Aber dagegen offenbar mehr.

Maas blickt irritiert in den Saal und sagt: „Eine Tendenz ist zu erkennen.“Sicherheit­shalber lässt er jedoch die Zählkommis­sion aufmarschi­eren. Die Sache ist zu heikel. Sehr nüchtern gibt Maas dann das Ergebnis bekannt: 362 Ja-Stimmen, 279 Nein-Stimmen. Maas: „Damit wird die SPD Koalitions­verhandlun­gen aufnehmen.“Schulz schaut irgendwie grau aus, aber atmet kurz auf. Und dann singt er zum Schluss mit allen das Lied der SPD: „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’.“

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SPD-Chef Martin Schulz (Mitte), seine Stellvertr­eterin Malu Dreyer (re.) und Fraktionsv­orsitzende Andrea Nahles (li.) zeigten sich nach der Abstimmung erleichter­t: Eine Mehrheit der SPD sprach sich für die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen mit der...

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