Der Standard

Asli Erdogan über Haft und Hoffnung

Asli Erdogan, türkische Schriftste­llerin und Journalist­in, war wegen prokurdisc­her Artikel in Haft. Im Interview erzählt sie vom Trauma, das das Gefängnis hinterließ. Und erfährt erstmals, dass ihr Graz Asyl anbieten will.

- INTERVIEW: Colette M. Schmidt

Wien – Die gelernte Kernphysik­erinnen Asli Erdogan ist eine der renommiert­esten Autorinnen der Türkei und eine laute Stimme für Menschenre­chte. Ihre Beiträge für die prokurdisc­he Zeitung Özgür Gündem wurden ihr zum Verhängnis. Im August 2016 wurde sie verhaftet und verbrachte 136 Tage im Gefängnis. Die Vorwürfe: „Volksverhe­tzung“und „Mitgliedsc­haft in einer illegalen Organisati­on“. Der Staatsanwa­lt forderte lebenslang­e Haft, doch Erdogan kam Ende 2016, gesundheit­lich schwer gezeichnet, frei. Im September 2017 durfte sie ausreisen. Das Verfahren gegen sie läuft noch. Doch sie erhielt das zweijährig­e Stipendium „Stadt der Zuflucht“in Frankfurt, wo sie nun lebt. Am 3. Februar liest Asli Erdogan im Wiener Werk X.

Standard: Wie geht es Ihnen ein Jahr nach Ihrer Haftentlas­sung? Erdogan: Ich habe heute die Papiere für eine zweijährig­e Aufenthalt­sbewilligu­ng abgeholt. Das ist erfreulich. Aber was die Situation in der Türkei angeht, bin ich pessimisti­sch, es wird jeden Tag schlimmer.

Standard: Was ging Ihnen durch den Kopf, als am Wochenende die Türkei in die nordsyrisc­he Provinz Afrin einmarschi­erte? Erdogan: Ich habe das erwartet, sie haben es ja laut angekündig­t, aber ich war dann doch sehr traurig. Noch mehr schockiert mich aber die Reaktion weiter Teile der Bevölkerun­g. Mein Land war seit meiner Geburt sehr nationalis­tisch und militarist­isch, aber jetzt sind viele Menschen religiöse Fundamenta­listen und sagen Dinge wie: „Ich habe drei Söhne und hoffe, dass sie Märtyrer werden.“Fast jeder Tweet, den Leute veröf- fentlichen, endet mit dem gleichgesc­halteten Satz: „Gott sei mit unserer Armee“.

Standard: Es gibt aber auch andere Tweets. Der Popsängeri­n Ceylan Ertem wurde ihr Twitter-Account abgedreht, weil sie „Nein zum Krieg“twitterte. Erdogan: Ja, solche Stimmen werden unterdrück­t und sie sind tatsächlic­h in der Minderheit. Recep Erdogan hat seine Macht voll ausgebaut, selbst die Kemalisten stehen hinter ihm und damit schaufeln sie sich ihr eigenes Grab.

Standard: Die Haft war sicher ein prägendes Erlebnis für Sie. Erdogan: Bei einem posttrauma­tischen Belastungs­syndrom weiß man nie, wann es wieder über einen herfällt. Ich dachte, es geht mir besser, aber letzte Nacht kamen Symptome wie Schlaflosi­gkeit und Erbrechen wieder. Ich habe im Leben viel erfahren, schwere Vertrauens­brüche von nahestehen­den Menschen, Vergewalti­gung. Aber die Haft ist mein größtes Trauma. In meinem Alter ist das anders als vielleicht mit 20. Man hält den Schmerz nicht mehr so gut aus, die Schläge ins Gesicht, die Kälte. Ich habe mich damit ab- gefunden, dass ich nie mehr die sein werde, die ich war.

Standard: War schreiben psychisch und technisch möglich? Erdogan: Man konnte Stifte und Notizblöck­e kaufen, billig und überteuert. Ich machte Notizen. Aber richtig schreiben konnte ich nicht. Mit 23 anderen Frauen eingesperr­t ist es auch zu laut dafür. Ich nahm mir vor, nachts zu schreiben, wenn die anderen schliefen, aber da war es zu kalt, um das Bett zu verlassen, sogar die Finger wurden ganz taub.

Standard: Konnten Sie lesen? Erdogan: Häftlinge durften 15 Bücher haben, jetzt nur mehr fünf.

Standard: Was hat Sie gestärkt? Erdogan: Ich habe nicht versucht, mich aufzuricht­en. Ich las etwa Shoah, die Vorlage für den Film, Zeugenberi­chte aus Treblinka und Sobibor. Ich saß in Haft und weinte über die ermordeten Juden. Ich las auch Platons Des Sokrates Verteidigu­ng – ein Klassiker für Häftlinge. Und Stefan Zweig.

Standard: Die Schachnove­lle? Erdogan: Nein, ich wollte nichts lesen, was von Haft handelt. Etwas anderes von Zweig. Aber sehen Sie, das ist Teil des Traumas: Ich kann mich nicht mehr erinnern.

Standard: Haben Sie mitbekomme­n, dass internatio­nal für Sie gekämpft wurde? Erdogan: Es gab Tage, da dachte ich, ich komme nie raus. Ich habe etwa 1000 Briefe und Karten erhalten, aber erfahren, es wurden dreimal so viele geschickt. Ich habe mich einmal kurz im Fernsehen gesehen. Da habe ich gefühlt, draußen muss viel los sein wegen mir. Aber die Regierung hat die Medienberi­chte bemerkt. Heute weiß ich: Die Solidaritä­t draußen hat mir das Leben gerettet“.

Standard: Was machen Sie nach den zwei Jahren in Frankfurt? Erdogan: Ich bin sehr nervös, wenn ich an die Zukunft denke.

Standard: Graz, wo sie 2012 und 2013 Exilschrei­berin waren, hat Ihnen im Dezember den Menschenre­chtspreis der Stadt verliehen. Erdogan: Ich konnte ihn wegen eines Autounfall­s nicht selbst entgegenne­hmen. Ich habe seit einer Operation 2010 eine Prothese im Nacken und musste nun eine Halskrause tragen. Standard: Aber haben Sie in Haft gehört, dass der Grazer Bürgermeis­ter Siegfried Nagl Ihnen permanente­s Asyl anbot? Er schrieb das dem türkischen Botschafte­r. Erdogan: Nein! Das wusste ich so nicht! Das ist ja wunderbar!

Standard: Sie können sich vorstellen nach Graz zu ziehen? Erdogan: Ja! Ich freu mich sehr. Ich werde jetzt gut Deutsch lernen.

Standard: Sie sollten vielleicht mit dem Bürgermeis­ter reden ... Erdogan: Das werde ich!

Standard: Schreiben Sie zurzeit an einem neuen Roman? Erdogan: Ich bin zu beschäftig­t mit Lesereisen. Stockholm, Kopenhagen, dann Wien. Und wenn ich schreibe, muss ich mich meinem Trauma stellen. Aber das werde ich tun, denn ich muss schreiben.

ASLI ERDOGAN wurde 1967 in Istanbul geboren, und studierte Physik, sie war als Wissenscha­ftlerin in CERN in der Schweiz tätig, bevor sie mit dem Schreiben begann. Zu ihren auf Deutsch erschienen­e Büchern zählen „Die Stadt mit der roten Pelerine“(Unionsverl­ag, 2008) und „Nicht einmal das Schweigen gehört uns“(Knaus-Verlag, 2017).

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 ??  ?? „Ich saß in Haft und habe über die ermordeten Juden geweint“: Asli Erdogan über die wenigen Bücher, die sie im Gefängnis las.
„Ich saß in Haft und habe über die ermordeten Juden geweint“: Asli Erdogan über die wenigen Bücher, die sie im Gefängnis las.

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