Die frühe erste Reise des Homo sapiens
Die bisher ältesten Beweise für die Existenz des Homo sapiens außerhalb von Afrika werden auf rund 100.000 Jahre datiert. Nun fanden Forscher ein sensationelles Fossil, das belegt, dass der moderne Mensch bis zu 60.000 Jahre früher nach Eurasien ausgewand
Wien – Die Wurzeln des modernen Menschen liegen im südlichen Afrika, darin sind sich heute die meisten Wissenschafter einig. Auch herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, welchen Weg der Homo sapiens genommen hat, um den Kontinent zu verlassen: Bisherige Funde lassen wenig Zweifel daran, dass der Mensch über den Nahen Osten den Rest der Erde erobert hat.
Weit weniger Klarheit gibt es dagegen in der Fachwelt, wann dieser Exodus stattgefunden haben könnte. Die ältesten bisher bekannten nichtafrikanischen Homo-sapiens-Funde stammen aus Israel und wurden auf ein Alter von 90.000 bis 120.000 Jahre datiert. Genetische Untersuchungen lieferten allerdings im vergangenen Jahr stichhaltige Hinweise darauf, dass sich der Mensch bereits viel früher außerhalb Afrikas mit Neandertalern vermischt haben könnte.
Nun hat ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Israel Hershkovitz von der Universität Tel Aviv in der Misliya-Höhle im israelischen Karmel-Gebirge ein Fossil entdeckt, das diese DNA-Ergebnisse bestätigen würde: Der halbe Oberkiefer mit beinahe vollständiger Bezahnung konnte von Gerhard Weber vom Department für Anthropologie der Universität Wien anhand von hochauflösenden Scans eindeutig als Homo sapiens identifiziert werden. Das Außergewöhnliche an dem „Misliya-1“benannten Knochen ist vor allem sein Alter: Mittels dreier unterschiedlicher Methoden datierten die Wissenschafter ihn auf 177.000 bis 194.000 Jahre.
Widerspruch zum Lehrbuch
Der Kiefer gehörte vermutlich einem jungen Erwachsenen. Da der Weisheitszahn bereits vorhanden, aber noch nicht abgenutzt ist, gehen die Forscher von einem Sterbealter von 18 bis 20 Jahren aus. „Dieser Fund wirft einiges um, was wir heute in den Lehrbüchern stehen haben“, beschreibt Weber die Bedeutung des Fossils gegenüber dem STANDARD. Das offensichtlich viel frühere Auftauchen des modernen Menschen in Eurasien zeige, dass seine Auswanderungsgeschichte weitaus nicht so geradlinig verlaufen sei wie gedacht, sondern sich viel komplexer gestaltete. „Bisher ist man davon ausgegangen, dass sich der Homo sapiens nach seiner Entwicklung im Osten Afrikas vor etwa 200.000 Jahren zunächst nur lokal ausgebreitet hat und erst vor 120.000 bis 90.000 Jahren nach Vorderasien kam.“
Das sei offensichtlich falsch, so Weber. Der moderne Mensch dürfte sich nach der nun im Fachjournal Science publizierten Studie in Wahrheit schon 60.000 Jahre früher auf den Weg in die Welt hinaus gemacht haben, was für seine weitere Entwicklung von besonderer Bedeutung sei: „Nachdem in Eurasien bereits der Neandertaler und andere Frühmenschen existierten, wird es zwischen diesen und den modernen Menschen wahrscheinlich schon früher Begegnungen gegeben haben – mit entsprechendem biologischem und kulturellem Austausch“, sagt Weber.