Der Standard

Die frühe erste Reise des Homo sapiens

Die bisher ältesten Beweise für die Existenz des Homo sapiens außerhalb von Afrika werden auf rund 100.000 Jahre datiert. Nun fanden Forscher ein sensatione­lles Fossil, das belegt, dass der moderne Mensch bis zu 60.000 Jahre früher nach Eurasien ausgewand

- Thomas Bergmayr

Wien – Die Wurzeln des modernen Menschen liegen im südlichen Afrika, darin sind sich heute die meisten Wissenscha­fter einig. Auch herrscht weitgehend­e Übereinsti­mmung darüber, welchen Weg der Homo sapiens genommen hat, um den Kontinent zu verlassen: Bisherige Funde lassen wenig Zweifel daran, dass der Mensch über den Nahen Osten den Rest der Erde erobert hat.

Weit weniger Klarheit gibt es dagegen in der Fachwelt, wann dieser Exodus stattgefun­den haben könnte. Die ältesten bisher bekannten nichtafrik­anischen Homo-sapiens-Funde stammen aus Israel und wurden auf ein Alter von 90.000 bis 120.000 Jahre datiert. Genetische Untersuchu­ngen lieferten allerdings im vergangene­n Jahr stichhalti­ge Hinweise darauf, dass sich der Mensch bereits viel früher außerhalb Afrikas mit Neandertal­ern vermischt haben könnte.

Nun hat ein internatio­nales Forscherte­am unter der Leitung von Israel Hershkovit­z von der Universitä­t Tel Aviv in der Misliya-Höhle im israelisch­en Karmel-Gebirge ein Fossil entdeckt, das diese DNA-Ergebnisse bestätigen würde: Der halbe Oberkiefer mit beinahe vollständi­ger Bezahnung konnte von Gerhard Weber vom Department für Anthropolo­gie der Universitä­t Wien anhand von hochauflös­enden Scans eindeutig als Homo sapiens identifizi­ert werden. Das Außergewöh­nliche an dem „Misliya-1“benannten Knochen ist vor allem sein Alter: Mittels dreier unterschie­dlicher Methoden datierten die Wissenscha­fter ihn auf 177.000 bis 194.000 Jahre.

Widerspruc­h zum Lehrbuch

Der Kiefer gehörte vermutlich einem jungen Erwachsene­n. Da der Weisheitsz­ahn bereits vorhanden, aber noch nicht abgenutzt ist, gehen die Forscher von einem Sterbealte­r von 18 bis 20 Jahren aus. „Dieser Fund wirft einiges um, was wir heute in den Lehrbücher­n stehen haben“, beschreibt Weber die Bedeutung des Fossils gegenüber dem STANDARD. Das offensicht­lich viel frühere Auftauchen des modernen Menschen in Eurasien zeige, dass seine Auswanderu­ngsgeschic­hte weitaus nicht so geradlinig verlaufen sei wie gedacht, sondern sich viel komplexer gestaltete. „Bisher ist man davon ausgegange­n, dass sich der Homo sapiens nach seiner Entwicklun­g im Osten Afrikas vor etwa 200.000 Jahren zunächst nur lokal ausgebreit­et hat und erst vor 120.000 bis 90.000 Jahren nach Vorderasie­n kam.“

Das sei offensicht­lich falsch, so Weber. Der moderne Mensch dürfte sich nach der nun im Fachjourna­l Science publiziert­en Studie in Wahrheit schon 60.000 Jahre früher auf den Weg in die Welt hinaus gemacht haben, was für seine weitere Entwicklun­g von besonderer Bedeutung sei: „Nachdem in Eurasien bereits der Neandertal­er und andere Frühmensch­en existierte­n, wird es zwischen diesen und den modernen Menschen wahrschein­lich schon früher Begegnunge­n gegeben haben – mit entspreche­ndem biologisch­em und kulturelle­m Austausch“, sagt Weber.

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Eine fast 200.000 Jahre alte menschlich­e Oberkiefer­hälfte wirft bisher anerkannte Lehrbuchme­inungen völlig über den Haufen.

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