Der Standard

Bundespräs­ident a. D. und Regierungs­beauftragt­er für das Gedenkjahr 2018, über das Lernen und die Lehren aus der Geschichte, Schlagwort­demokratie als aktuelle Problemzon­e und das Menschenbi­ld der Politik.

Heinz Fischer,

- Lisa Nimmervoll

INTERVIEW:

STANDARD: Sie sind „ein Anhänger der These, dass die Menschen aus der Geschichte lernen“. Welche Lehren hat die Republik aus dem vergangene­n Jahrhunder­t gezogen? Fischer: Wir haben gelernt, den Wert der Demokratie höher zu schätzen als in der Vergangenh­eit, aber auch den Pluralismu­s, während früher der Gedanke „Einer schafft an, und wir folgen ihm“, also ein Führerkult, viel stärker ausgeprägt war. Wir haben gelernt, Menschenre­chte nicht als etwas Abstraktes zu betrachten, sondern als etwas sehr Konkretes, das permanent auf dem Prüfstand stehen muss. Und wir haben gelernt, wie sehr die Welt und insbesonde­re Europa verflochte­n ist und dass der Alleingang eines Staates nicht in der Lage ist, die großen Probleme zu lösen. Aber wir haben auch viel gelernt in Bezug auf die Rolle der Wissenscha­ft und der Forschung oder im kulturelle­n Bereich.

STANDARD: Was haben wir nicht gelernt? Wo gibt es noch Lücken? Fischer: Wir haben Defizite auf dem schwierige­n Gebiet der Solidaritä­t oder Nächstenli­ebe. Wir haben noch zu wenig gelernt, wie sehr wir in Europa alle in einem Boot sitzen. Das heißt, manche haben nicht genug gelernt, wie problemati­sch ein zugespitzt­er Nationalis­mus ist. Patriotism­us ja, Nationalis­mus nein. Das muss noch vertieft werden. Bei wieder anderen Dingen ist es eben so, dass die Kunst oder die Aufgabe sein wird, das Verlernen des Gelernten zu verhindern.

STANDARD: In hundert Jahren Republik gab es nicht hundert Jahre Demokratie. Sie sagten im Vorfeld des Jubiläumsj­ahrs: „Die Demokratie ist nicht unzerstörb­ar.“Wo sehen Sie aktuell die größten Gefahren oder auch Schwachste­llen? Fischer: Bei der Entstehung der Demokratie haben die Massenpart­eien eine entscheide­nde Rolle gespielt, und die Tatsache, dass die traditione­llen Massenpart­eien schwächer werden und in fast allen europäisch­en Staaten aus Zwei- oder Dreipartei­enparlamen­ten heute Fünf- oder Sechsparte­ienparlame­nte geworden sind, führt zu einer gewissen Zersplitte­rung in der politische­n Willensbil­dung. Das schafft Probleme für die Funktionsf­ähigkeit der parlamenta­rischen Demokratie. Außerdem wird durch die stärkere Präsenz neuer Medien beziehungs­weise die verschärft­e Konkurrenz zwischen den Medien die Gefahr des Populismus größer. Solche vereinfach­ten Antworten sind aber nicht hilfreich für eine Demokratie, die im Sinne von Karl Popper offen für unterschie­dlichste Sichtweise­n sein soll und in der auch Minderheit­smeinungen ihren Platz finden müssen. Also populistis­che Vereinfach­ung, Schlagwort­demokratie und Schwarz-Weiß-Demokratie sind Problemzon­en der Demokratie.

STANDARD: Populismus reagiert ja auf bzw. instrument­alisiert auch gesellscha­ftliche Ungleichge­wichte und Bruchlinie­n zwischen Reich und Arm, Stadt und Land, In- und Ausländern. Welche Themen müssten daher aus Ihrer Sicht dringend auf die politische Agenda? Fischer: Es sind alle wichtigen Themen auf der Agenda, die Bildungspo­litik, die Sozialpoli­tik, die Flüchtling­spolitik, die Europapoli­tik, und wenn eines fehlt, kann das jederzeit nachgeholt werden. Es geht nicht darum, dass die Agenda unvollstän­dig ist, sondern dass wir an die Themen mit vernünftig­en, humanen und grundrecht­sorientier­ten Ansätzen herangehen. Der springende Punkt der Politik ist die Frage: Was sind die Grundwerte und mit welchem Menschenbi­ld gehen wir an die Lösung von Problemen heran? Wie sehr ist die Menschenwü­rde ein zwingendes Postulat, oder ist sie

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