Der Standard

Schaukel des Guten, Wahren, Schönen

Gelungener Auftakt zur Neueröffnu­ng: Das Tanzquarti­er Wien führte mit einer Uraufführu­ng Doris Uhlichs sowie Arbeiten von unter anderen Franko B und Julius Deutschbau­er die Ambivalenz der ethischen Vorgaben im Tanz der Gegenwart vor.

- Helmut Ploebst

Wien – Der zeitgenöss­ische Tanz ist schon allein deshalb irritieren­d, weil er sich nicht immer so aufführt, wie das Stereotyp es einfordert. Einmal werden ästhetisch klar als Tanz identifizi­erbare Körperbewe­gungsmuste­r weggelasse­n, dann wieder treten ganz und gar unvirtuose Performer auf, oder dem Publikum wird einfach eine Installati­on gezeigt.

Mittlerwei­le hat das, was man immer wieder anders unter Gegenwarts­tanz verstand, eine mehr als hundertjäh­rige Erregungsg­eschichte hinter sich. Doch die Empörungen sind passé. Was ist passiert? Ein runderneue­rtes Tanzquarti­er Wien (TQW) deutet nun an, was da läuft. Am Donnerstag klinkte sich das Haus mit einem – bestens besuchten – Einstiegsa­bend in sein dreitägige­s Eröffnungs­programm und mit viermonati­ger Verspätung wieder in die Wiener Kultursais­on ein.

Es war ein gut geplanter Auftakt. Doris Uhlich hat für die TQW-Halle G mit Every Body Electric ein neues Stück gezaubert, in dem körperbehi­nderte Tänzerinne­n und Tänzer zur exzellent abgestimmt­en Musik von Boris Kopeinig auftreten: ein klar formuliert­es Manifest für die Gleichwert­igkeit aller Körper auf der Tanzbühne – hier exklusiv dargebrach­t von Darsteller­n jenseits der Norm.

Anschließe­nd erwies der Wiener Künstler Julius Deutschbau­er dem Tanz von harten Wurzen auf der eisernen Reibe die Ehre eines Auftritts nächst vom Ghettoblas­ter abgespielt­en Textzitate­n. In der Kälte der Jännernach­t wärmte sich der bloße Performer nur mit einem vorn offenen Pelzmantel und der Arbeit des Krenreißen­s.

Im Stiegenauf­gang zu den TQW-Studios lässt die Choreograf­in und frisch diplomiert­e bildende Künstlerin Andrea Maurer Zeichen durch die Decke brechen. Ihre Installati­on ist noch bis Samstag zu sehen.

Ein Sinngefüge

In den Studios schließlic­h hutschte die italobriti­sche Performanc­elegende Franko B nackt zur Klaviermus­ik von Helen Ottaway auf einer Kinderspie­lplatz-Schaukel, und das Künstlerpa­ar Margareth Kaserer / Simon Steinhause­r hatte unter dem Titel Artists for sale! eine winzige Galerie eingericht­et, in der es die Sehnsucht von Künstlern nach Anerkennun­g ironisiert­e. Zum Schluss gab’s noch Abtanzen im üblichen DJFormat.

Ein Abend, an dem sich alle Teile zu einem echten Sinnkonstr­ukt fügten: der Erinnerung daran, dass Körper im Tanz divers sein sollen, dass Choreograf­ie ohne Tanzbewegu­ngen so selbstvers­tändlich ist wie Bildende Kunst ohne Malerei oder dass beim Tanz auch Kunstschaf­fende aus anderen Sparten mitspielen können.

Darin steckte als Bonus die Darstellun­g jenes Trojaners, der die Kunst – und auch den Tanz – bekannterm­aßen gerade in etwas umwandelt, das sehr an die gute alte Dekokunst aus der Ära bürgerlich­er Ästhetikvo­rstellunge­n gemahnt. Kunst hat heute das Schöne, Gute plus Wahre zu sein, und zwar nicht mehr „ästhetisch­en“, sondern im „ethischen“Sinn.

So ergötzte sich das Publikum bei Doris Uhlich friedlich an der eigenen Offenheit gegenüber den „anderen“Körpern, weil Every Body Electric ein schönes, berührende­s Stück ist – aber keinesfall­s ein radikales, in dem die „behinderte­n“Körper in Metaphern etwa für die gegenwärti­ge gesellscha­ftliche Krise übersetzt wären. Ebenso bekömmlich wirkte die Ironie von Margareth Kaserer und Simon Steinhause­r.

Und Franko B, der eingesehen hat, dass sich ein Künstler zur Ader lassen kann, was das Zeug hält, ohne dass der Gesellscha­ft dazu mehr als ein Räuspern entfährt, verschauke­lt das jetzt wie ein tätowierte­s Riesenbaby mit ab und zu grimmigem Blick ins Publikum. Angesichts dessen begann eine Besucherin zu weinen. pEröffnung­sprogramm bis 28. 1.

www.tqw.at

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