Euphorie und Ende
Kaiser Karl dachte an einen Separatfrieden – was, verpatzt, zum diplomatischen Desaster der „Sixtus-Affäre“führte. Leider! So musste Kaiser Karl, um nicht als Lügner dazustehen, jetzt erst recht in Nibelungentreue weiterkämpfen lassen.
Zum Jahresbeginn 1918 herrschte unter österreichischen Generalstäblern Euphorie – alle strategischen Kriegsziele waren erreicht! Das zaristische Russland zerfiel und machte den Bolschewiken, erpicht auf Sofortfrieden, Platz; Serbien, Albanien und Montenegro waren besetzt; Rumänien, 1916 vorlaut in den Krieg gegen die Mittelmächte eingetreten, musste um Waffenstillstand und Frieden betteln; und Italien, in der erfolgreichen Durchbruchschlacht von FlitschTolmein gedemütigt, sammelte am Piave-Südufer die Reste seiner zertrümmerten Isonzo-Armee ein.
Freilich, nicht alle Erfolge gingen ausschließlich auf das Konto der Österreicher. Ein deutsches militärisches Korsett hatte oft geholfen, was gelegentlich die Österreicher zum Juniorpartner abstufte. Dennoch brachte das Kaiserreich nicht zu unterschätzende Militärhilfe für die Osmanen auf.
Diese günstige strategische Konstellation 1917/18 erscheint umso bemerkenswerter, als die k. u. k. Feldarmee im Herbst 1914 seitens der Russen katastrophale Verluste einstecken musste: „Am Abend tönen die herbstlichen Wälder von tödlichen Waffen“, beginnt Georg Trakl seinen GrodekAbgesang, bevor sein eigenes Leben verlöscht. Ebenso schlimm: Ein Großteil der adligen Berufsoffiziere war damals entweder gefallen oder in russische Gefangenschaft geraten. Reserveoffiziere – oft bürgerliche Freiwillige – sowie unerschütterliche Unteroffiziere hielten die multiethnische Streitmacht zusammen.
Hektisches Requirieren
Anfang 1918 begann ein hektisches Requirieren, genauer: das Ausplündern von Rumänien, der Ukraine sowie von Oberitalien, um Lebensmittel, etwa Weizen oder Fleisch, und Erdöl einzuführen. Zudem erhoffte man das Auffüllen der Heeresstärke dank der Heimkehr einer halben Million Kriegsgefangener aus Russland. Freilich, dies alles kam zu spät, und wenn die Bauern in besetzten Gebieten, denen man das Vieh wegtreiben wollte, mit Mistgabeln oder Jagd- flinten protestierten, antwortete Österreichs Armee drakonisch.
Nach den großen Erzählungen der Feldzüge des Ersten Weltkriegs rückten indes jüngere Historiker nach, welche die interne Lage, insbesondere die katastrophale Ernährungslage in Wien, auskundschafteten. Ein neues Thema war auch die barbarische Disziplinierung nicht nur in der Armee, sondern auch in der Zivilbevölkerung: Aus- und Umsiedeln (vor allem der verachteten Ruthenen), Einsperren, Erschießen, Aufhängen, Würgegalgen – keine Grauslichkeit wurde von der österreichischen Obrigkeit ausgelassen.
Mich überraschten die alternativen Historien keineswegs, denn ich hatte schon als Gymnasiast Franz Werfels Kriegsroman Barbara oder die Frömmigkeit – heute leider fast vergessen – gelesen, nein verschlungen. Hierin erleidet der übersensible Leutnant Ferdinand alle Schrecken der Disziplinierung in einer Armee, die nicht nur den Feind bekämpft, sondern auch ohne Bedenken die Eigenen, selbst wenn objektiv schuldlos, füsilieren lässt. Indem Leutnant Ferdinand dem Erschießungspeloton den letzten Befehl verweigert, zeigt er den Weg zum Antihelden auf – ein Grund, um jede Maturaklasse zur Lektüre zu verpflichten: Aber welche Schulklasse liest heute noch einen vierhundertseitigen Werfel-Roman?
Pazifistische Literatur hatte 1917/18 keine Chance. Wohl aber dachte Kaiser Karl, seit November 1916 gekrönter Nachfolger von Franz Joseph, an einen Separatfrieden – was, verpatzt, zum diplomatischen Desaster der „Sixtus-Affäre“führte. Leider! So musste Kaiser Karl, um nicht als Lügner dazustehen, jetzt erst recht in Nibelungentreue weiterkämpfen lassen – was die Euphorie vom Jahreswechsel abrupt dämpfte und rasch zur Zerrüttung im Heer führte. Um Berlin zufriedenzustellen, ließ Karl am 15. Juni 1918 wider alle Logik die von Engländern und Franzosen verstärkten Italiener am Piave angreifen.
„Szent István“sinkt
Zur Unterstützung der Landoffensive sollte auch die kaiserliche Marine mit der Beschießung von Venedigs Vorfeldern beitragen. Resultat war der unrühmliche Untergang des von der ungarischen Reichshälfte finanzierten Schlachtschiffs „Szent István“. Chaos regierte. Das kaiserliche Heer löste sich auf. Die Soldaten, nach Sprache und Ethnie solidarisiert, begannen in anarchischen Haufen nach Hause zu drängen. Alexander Lernet-Holenia hat diesen Untergang in Romanen und Erzählungen – etwa in Die Standarte – in melancholischer Eleganz meisterhaft geschildert.
Als Fußnote wäre anzumerken, dass die deutsche Armeeführung Wien längst misstraute und im Fall eines Separatfriedens – die Akten belegen es – Österreich blitzartig besetzt hätte. Was im März 1938 ja auch nachgeholt worden ist.