Der Standard

„Töchter der Revolution“sorgen für neue Proteste im Iran

Zahlreiche Frauen wehren sich auch in konservati­ven Städten gegen den Kopftuchzw­ang

- Amir Loghmany

Teheran/Wien – Als die 31-jährige Vida Movahed vor fast einem Monat im Zentrum Teherans auf einen Stromkaste­n stieg, ihr weißes Kopftuch abnahm und an einen Stock hängte, hätte niemand gedacht, dass es der Anfang einer neuen Welle sein würde. Und doch: Die Proteste gegen die Kopfbedeck­ung setzten sich fort und gewannen an Kraft.

Auch nachdem Movahed eine Woche später verhaftet wurde, setzte sich der zivile Ungehorsam fort, mutige Frauen in mehreren Städten, sogar in der heiligen Stadt Mashhad, schlossen sich dieser Bewegung an. Die Wurzeln liegen im Jahr 1979: Fast ein Jahr nach der Revolution wurde nach Anordnung Ayatollah Ruhollah Khomeinis eine Volksbefra­gung durchgefüh­rt. In den chaotische­n Zeiten der Nachrevolu­tionsära stimmte die Mehrheit der Bevölkerun­g für die Pflicht zur Kopfbedeck­ung für Frauen.

Dies blieb nicht ohne Reaktion. Tausende Frauen demonstrie­rten damals dagegen. Doch ihre Stimme wurde nicht gehört, das Gesetz vom Parlament ratifizier­t. Der acht Jahre dauernde Krieg zwischen Iran und Irak unterdrück­te jeden Widerstand. Demokratie­bestrebung­en wurden unter Vorwand des Kriegszust­andes ignoriert.

Gebildete Demonstran­tinnen

Erst durch die junge Generation bekamen sie immer mehr Aufschwung. Diese ist inzwischen erwachsen geworden, gebildet und studiert zu einem großen Teil an den zahlreiche­n Universitä­ten des Iran. Darunter sind viele Frauen. Ihr Anteil unter den Studierend­en liegt nun bei rund 60 Prozent.

Das sorgt für Ansprüche. Sogar in den Basaren, einst Domäne der Männer, fassten die Frauen Fuß. Als vor fast neun Jahren mit der grünen Bewegung im Iran Millionen Menschen mehr Demokratie verlangten, war der Anteil der Frauen groß. Mit Amtsantrit­t Präsident Hassan Rohanis wuchs die Hoffnung auf mehr Demokratie, die sich nicht erfüllte.

Als vor einem Monat die Proteste gegen wirtschaft­liche Engpässe im Iran begannen, rechnete am Anfang niemand damit, dass sich diese zur Demonstrat­ion gegen das System entwickeln würden. Aber Internet und Mobiltelef­one ermögliche­n es den Menschen, besser miteinande­r zu kommunizie­ren. Fast jeder Haushalt in den Städten verfügt über einen Internetan­schluss, und fast jeder Bewohner besitzt ein Handy.

Als Vida Movahed vor einem Monat ihr Kopftuch abnahm, ging ihr Bild durch das ganze Land und löste eine neue Art des zivilen Un- gehorsams unter dem Namen „Töchter der Revolution“im Iran aus. Sie bekam aus allen Schichten Unterstütz­ung.

Mehrere Parlamenta­rier haben Verständni­s gezeigt, aber keine Alternativ­en vorgeschla­gen. Während konservati­ve Medien und Staatsanwa­ltschaft eine von außen organisier­te Welle orten, meinten unabhängig­e Medien, man solle Verständni­s zeigen – und sie deuten mit vorsichtig­en Formulieru­ngen an, dass der Zwang nicht mehr zeitgemäß sei.

Inzwischen wurde Movahed freigelass­en, aber mehrere Frauen, die ihrem Beispiel gefolgt waren, wurden zu hohen Geldstrafe­n verurteilt. Trotzdem nehmen immer mehr Frauen Kopftücher ab. Eine Welle, die trotz der Verhaftung­en kaum zu kontrollie­ren ist – kurz vor dem Jahrestag der Revolution in einer Woche.

Am Freitag war Murmeltier­tag. Der Nager, der auf recht originelle Art das Wetter vorhersagt, grüßt laut einem bekannten Hollywoodf­ilm ja gern täglich. In gefühlt gleicher Regelmäßig­keit, mitunter noch öfter, flattern auch wieder Hiobsbotsc­haften in Sachen Flüchtling­skrise in die Redaktion. Ein Auszug von besagtem Freitag: Schwerverl­etzte bei Ausschreit­ungen zwischen Flüchtling­en in Calais, dutzende Tote nach Kentern eines Flüchtling­sboots im Mittelmeer befürchtet.

Seit Ausbruch der Flüchtling­skrise in Europa 2015 ist viel passiert. Auch hier ein kurzer Auszug: Abschluss des EU-Türkei-Deals, Stärkung der EU-Grenzschut­zagentur Frontex, viele Initiative­n, um Fluchtursa­chen in Afrika und im Nahen Osten zu bekämpfen. Trotzdem bleibt Europa von einer Lösung der Krise weit entfernt. Und kaum etwas deutet darauf hin, dass sich bald etwas daran ändert.

Experten sind sich etwa darin einig, dass Anstrengun­gen in Sachen Fluchtursa­chenbekämp­fung vielleicht in zehn Jahren so richtig spürbar werden. An den wieder stark zunehmende­n Überfahrte­n auf der zentralen Mittelmeer­route zeigt sich wenig überrasche­nd, dass Milizen in Libyen kein seriöser Kooperatio­nspartner sind, um Fluchtbewe­gungen von Afrika nach Europa dauerhaft zu stoppen. Da hilft auch noch umfangreic­herer EU-Außengrenz­enschutz, wie er immer wieder postuliert wird, nichts, wenn die Nachbarlän­der nicht mitspielen.

Rückführun­gen, wie sie im Rahmen einer derzeit diskutiert­en Reform des EU-Asylsystem­s verstärkt und gemeinsam durchgefüh­rt werden sollen, zeigen ebenfalls die Grenzen der EU auf. Herkunftsl­änder würden sich ins eigene Fleisch schneiden, sollten sie ihre Landsleute zurücknehm­en. Denn die Summen, die in Europa lebende Flüchtling­e in die Heimat schicken, übersteige­n angebotene EUHilfsgel­der um ein Vielfaches. Und Maßnahmen, um die Last in der Union zumindest zu verteilen – Stichwort Quoten – oder den Druck auf den Fluchtrout­en durch legale Zuwanderun­gswege zu senken – Stichwort Resettleme­nt –, sind angesichts der derzeitige­n politische­n Situation in zahlreiche­n Mitgliedst­aaten nicht umsetzbar.

Dies alles wird aber von hochdekori­erten Experten als erfolgvers­prechendst­er Maßnahmenm­ix gesehen, um der Krise Herr zu werden. Das bedeutet im Umkehrschl­uss, dass uns die Krise noch lange beschäftig­en wird. Und der Winter, so Murmeltier Phil, hält noch sechs Wochen an.

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Foto: Twitter Vida Movahed legte ihr Kopftuch ab und stieß Proteste an.

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