Schuldsprüche wegen Verhetzung seit 2015 mehr als verdoppelt
Justiz: 90 Prozent der Vergehen im Internet Auch mehr Strafen nach dem Verbotsgesetz
Wien – Während die Koalitionsspitzen in der Causa rund um das NS-Liederbuch bei der Germania zu Wiener Neustadt „die volle Härte des NS-Verbotsgesetzes“in Aussicht stellen, legt das Justizministerium auf STANDARD- Anfrage aktuelle Zahlen rund um Wiederbetätigung, Verhetzung und ähnliche Delikte vor: 2017 wurden hierzulande 119 Verurteilungen wegen Verstößen gegen das Verbotsgesetz ausgesprochen, in 21 Fällen einigte man sich auf eine Diversion. Seit 2015 verzeichnet das Justizressort mehr als tausend entsprechende Anzeigen jährlich – damit stiegen die Verurteilungen von 79 bzw. 85 (2015 und 2016) parallel dazu also deutlich an.
Noch drastischer ist der Anstieg an Verurteilungen bei Verhetzung, worunter das Strafrecht das Beschimpfen und Verächtlichmachen religiöser oder ethnischer Gruppen summiert. 107 Verurteilungen im Vorjahr stehen hier 52 (2016) bzw. 49 (2015) Schuldsprü- chen gegenüber – was mehr als einer Verdoppelung in den letzten drei Jahren entspricht.
„90 Prozent“dieser Vergehen fänden im Internet statt, erklärt Christian Pilnacek, Sektionschef im Justizministerium – und die Verschärfung des Straftatbestandes trage zu mehr Schuldsprüchen bei. Denn seit 2016 stehen bis zu zwei Jahre Haft darauf, wenn circa dreißig Menschen zu Gewalt oder Hass angestachelt werden – zuvor musste das bei 150 Personen erfolgen.
In der Affäre Germania wurde mittlerweile auch Udo Landbauer, FPÖ-Spitzenkandidat für die niederösterreichische Landtagswahl, einvernommen, wie die Staatsanwaltschaft bestätigte. Laut Germania-Vizeobmann Philip Wenninger – bereits zweimal als Zeuge befragt – war in der Germania neben Landbauer und dem Wiener FPÖLandtagsmandatar Stefan Berger kein weiterer Politiker Mitglied. (red)
Wien – Karoline Edtstadler argumentiert – ganz nach Vorbild ihres Parteichefs Sebastian Kurz (ÖVP) – mit Volkes Stimme. Immer wieder gebe es Urteile, „die wir der Bevölkerung schlicht nicht erklären können“, sagt die Staatssekretärin und ehemalige Richterin, die deshalb die Strafen für Sexualund Gewaltdelikte erhöhen will. „Unverhältnismäßigkeiten“sieht sie im System und illustrierte dies im Ö1- Morgenjournal mit einem plakativen Vergleich: Wer Jugendliche sexuell missbrauche, habe mit keiner höheren Strafe zu rechnen als ein Dieb, der mehr als 5000 Euro mitgehen lasse.
Es wird wohl tatsächlich viele Bürger geben, denen dieses Beispiel beim ersten Hinhören einleuchtet – schließlich kann sexueller Missbrauch Traumata auslösen, mit denen Opfer viele Jahre zu kämpfen haben. Doch hält das Beispiel auch einer genaueren Überprüfung stand? Und ist mehr Strenge tatsächlich sinnvoll?
Vom Strafgesetzbuch sind die Aussagen der ÖVP-Politikerin formal gedeckt. Paragraf 128 bedroht schweren Diebstahl mit Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren. Denselben Strafrahmen sieht Paragraf 207b unter dem Titel sexueller Missbrauch von Jugendlichen vor. Dennoch hält Strafrechtsprofes- sor Helmut Fuchs Edtstadlers Beispiel für missverständlich.
Wenn die Staatssekretärin im Radio von sexuellem Missbrauch spreche, „dann denken die Menschen wohl an Fälle, in denen etwa jemand im Schwimmbad einen Zwölfjährigen missbraucht“, sagt Fuchs. Tatsächlich ziele 207b aber auf Fälle ab, in denen das Opfer über 14 Jahre alt ist und grundsätzlich selbst über seine Sexualität bestimmen kann. Es besteht zwar ein Abhängigkeitsverhältnis, Drohung, Nötigung oder andere Gewalt ist jedoch nicht im Spiel. Denkbar sei ein Sporttrainer, der sich mit einem Schützling einlässt, erläutert Fuchs, oder eine Liaison zwischen Lehrer und Schülerin.
Letztlich liegt bei einem derartigen Sachverhalt, wie der Experte sagt, immer ein Einverständnis vor. Für Vergewaltigung und andere Gewaltdelikte gilt schon jetzt ein vielfaches Strafmaß.
Spirale nach oben im Gang
Fuchs kann in Edtstadlers Exempel ebenso wenig das behauptete Ungleichgewicht erkennen wie sein Kollege Klaus Schwaighofer. „Da muss man die Kirche im Dorf lassen“, sagt der Strafrechtler von der Uni Innsbruck, beim angesprochenen Paragrafen handle es sich um „keine Fälle von Schwerkriminalität. Da geht es um Menschen, die sexuell selbstbestimmt sind und, wenn sie über 16 sind, heiraten können.“
Generell ist Schwaighofer „absolut dagegen“, dass schon wieder am Strafmaß „herumgeschraubt“wird: Die letzte Erhöhung für Delikte gegen Leib und Leben datiert aus 2016, „auch die Strafen für Sexualdelikte wurden immer wieder gewaltig angehoben“– jetzt gelte es erst einmal, die Folgen zu überprüfen. Schärfe man unüberlegt einen Paragrafen nach, passe dann wieder nicht das Verhältnis zu einem anderen: „Da setzt sich eine Spirale nach oben in Gang.“
Aber ist das so schlecht? Schließlich argumentiert die im Innenministerium angesiedelte Staatssekretärin Edtstadler mit Abschreckung: Höhere Strafen sollen potenzielle Täter von vornherein abhalten.
Auch mit diesem Argument können die Fachleute wenig anfangen. „Strafen dürfen nicht bagatellisieren“, sagt Fuchs, doch ab einem gewissen Maß wirke sich eine Erhöhung der Drohung in Sachen Abschreckung „marginal oder gar nicht aus“. Dies gelte besonders für Sexualdelikte, ergänzt Schwaighofer. Die Täter seien meist Menschen mit Persönlichkeitsstörung – da würden höhere Strafen ebenso wenig helfen wie bei Drogenabhängigen, die man vom Heroin abzuhalten versucht.
Breite Kritik an Verschärfung
Breit ist der Widerstand in der Expertenschaft gegen das Vorhaben, das vom Justizministerium umgesetzt werden soll. Sabine Matejka, Präsidentin der Richtervereinigung, sieht eine „plakative Maßnahme, die niemanden von Sexualdelikten abhalten werde, und fordert vor einer neuerlichen Reform erst einmal die Evaluierung der alten. Auch Rupert Wolff, Präsident der Rechtsanwälte, erkennt keine Notwendigkeit für eine Verschärfung: Die Richter hätten genug Spielraum, innerhalb der vorgesehenen Höchststrafen zu differenzieren.
Wenn schon eine Reform, dann sollte diese nicht immer auf mehr Haft abzielen, sagt der Strafrechtler Fuchs. Denn dass Resozialisierung im Gefängnis funktioniere, habe sich vielfach als Irrtum entpuppt: „Menschen, die ihr Leben ohnehin nicht im Griff haben, verlieren dort noch mehr ihre Selbstständigkeit.“Man könne die Strafanstalten natürlich nicht gänzlich abschaffen, aber allemal innovative Modelle entwickeln, um die Überwachung in Halbfreiheit zu ermöglichen. „Die wenigsten Menschen“, merkt Fuchs an, „können sich vorstellen, was auch nur ein Monat im Gefängnis wirklich bedeutet.“