Der Standard

Behandlung von MS: Die Revolution muss warten

Erstmals wurde ein Medikament für chronische MS zugelassen – ein gutes Mittel, aber nur für wenige Patienten, sagen Mediziner

- Günther Brandstett­er

Wien – Sie sind selten, aber es gibt sie: die großen Würfe in der Entwicklun­g von Wirkstoffe­n, die einen Paradigmen­wechsel in der Medizin bedeuten. Die antivirale­n Medikament­e gegen HIV und Hepatitis C zählen etwa dazu. Vor knapp einem Monat hat die Europäisch­e Union (EU) das erste Medikament zur Behandlung von Patienten mit primär progredien­ter multipler Sklerose (PPMS) zugelassen. Von einem Meilenstei­n in der Behandlung von MS war die Rede. Dabei handelt es sich um den monoklonal­en Antikörper Ocrelizuma­b des Schweizer Pharmakonz­erns Roche, der unter dem Namen Ocrevus vertrieben wird.

Die PPMS ist durch eine kontinuier­liche Verschlech­terung des Gesamtzust­ands der Patienten von Beginn an gekennzeic­hnet. „Das Ausmaß der Wirksamkei­t von Ocrevus ist aber relativ bescheiden, denn für den größten Teil dieser Patienten ist es völlig ungeeignet“, warnt Fritz Leutmezer, Neurologe an der Med-Uni Wien, vor übertriebe­ner Hoffnung. Schließlic­h ist das Anwendungs­gebiet bei PPMS auf Patienten im Frühstadiu­m beschränkt. „Deutlich mehr profitiere­n werden Menschen, die von einerschub­förmigen MS betroffen sind“, ergänzt der Neurologe. Aber auch in dieser Gruppe gibt es Einschränk­ungen. Für die Behandlung von Langzeitpa­tienten, bei denen die Krankheit zunehmend einen chronische­n Verlauf nimmt, ist der monoklonal­e Antikörper ebenfalls ungeeignet.

„Auch der Wirkstoff ist nicht wirklich neu“, sagt der Wiener Neurologe Rainer Grass. „Es handelt sich um eine leicht modifizier­te Form des monoklonal­en Antikörper­s Rituximab, der bei rheumatisc­hen und onkologisc­hen Erkrankung­en in Verwendung ist. Seit etwa 15 Jahren wird er auch „off-label“zur Behandlung von MS eingesetzt.“

B-Zellen eliminiere­n

Über die Ursachen der Erkrankung gibt es noch immer keine Klarheit. Forscher vermuten, dass es sich hier um eine Fehlsteuer­ung des Immunsyste­ms handelt. Die Folge: Im Zentralner­vensys- tem kommt es zu Entzündung­en, die insbesonde­re die schützende Schicht der Nervenfase­rn im Gehirn, das Myelin, schädigt. „Alles, was bislang herausgefu­nden wurde, basiert auf Erkenntnis­sen im Tiermodell. Wenn T-Lymphozyte­n aus einer Maus entnommen werden, die an MS erkrankt ist, und in eine gesunde Maus injiziert werden, dann entwickelt diese auch MS. Damit war die Hypothese geboren, dass es sich um eine T-Zellen-vermittelt­e Erkrankung handelt“, erläutert Leutmezer.

Die Rolle der sogenannte­n BLymphozyt­en wurde dadurch lange Zeit unterschät­zt. Genau darauf zielen Rituximab und Ocrevus ab: Die Wirkstoffe eliminiere­n die BLymphozyt­en, jene weißen Blutkörper­chen, die als einzige Zellen in der Lage sind, Antikörper zu bilden. „Sie dürften Substanzen produziere­n, die für die Wirkung der T-Zellen von entscheide­nder Bedeutung sind. Wenn die B-Zellen entfernt werden, erreicht man so indirekt auch die T-Zellen“, erklärt Leutmezer das Wirkprinzi­p.

Der größte Vorteil von Ocrevus liegt darin, dass es Patienten nur alle sechs Monate als intravenös­e Infusion verabreich­t werden muss. „Außerdem gibt es nun ein Medikament zur Behandlung der PPMS, das durch drei klinische Studien abgesicher­t ist. Die große Herausford­erung wird sein, vielen Patienten zu erklären, warum es für sie ungeeignet ist“, sagt Grass.

Aktuell sind mehrere Wirkstoffe in Entwicklun­g, die direkt in den Krankheits­verlauf eingreifen und die Nervenschä­den im Gehirn reparieren sollen. „Momentan gibt es dazu ein paar Phase-II/III-Studien. Wenn das gelingt, kann wirklich von einer Revolution gesprochen werden“, ist Leutmezer überzeugt. Bis dahin heißt es: Bitte warten.

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Foto: AP Ocrevus muss nur alle sechs Monate verabreich­t werden.

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