Der Standard

Ich bin ich, und du bist du

Die Dokumentat­ion „Ateliers de conversati­on“beobachtet Menschen beim Kommunizie­ren

- Michael Pekler

Wien – Man nehme rund ein Dutzend Menschen, setze sie auf einfache Plastikstü­hle kreisförmi­g in einen Raum und gebe ein Gesprächst­hema vor: Was wie eine sozialexpe­rimentelle Versuchsan­ordnung klingt, ist in Atelier de conversati­on, dem ersten langen Dokumentar­film des österreich­ischen Regisseurs Bernhard Braunstein, eine simple wöchentlic­he Gesprächsr­unde. Denn dieses Atelier existiert tatsächlic­h, es findet sich, einem Glaskobel ähnlich, mitten in der öffentlich­en Bibliothek des Centre Pompidou.

„Wir sind hier, um über leichte Dinge zu reden. Wir werden hier keine geopolitis­che Debatte anfangen.“Der Moderator erinnert die Teilnehmer aus aller Welt, die sich hier zwecks Spracherwe­rb und Sozialkont­akt einfinden, des Öfteren daran, nicht über Politik oder Religion, dafür ausschließ­lich Französisc­h zu sprechen. Hier stehen andere Dinge im Vordergrun­d, und zwar nicht die konfrontat­ive Diskussion, sondern das Sprechen als solches. Kein Terrain also für den Ägypter, den die Verfolgung der koptischen Christen in seiner Heimat wütend macht, und auch kein Platz für die Frage, welche Rolle Mohammed Mursi im Syrien-Krieg spielt.

Von Braunstein ohne genaues Aufzeichnu­ngsdatum versehen, aber offensicht­lich 2014 entstanden, kann man Atelier de conversati­on als knapp 70-minütige Momentaufn­ahme von Menschen bezeichnen, die sich aus unterschie­dlichen Gründen in einer ihnen nicht vertrauten Sprache gegenüber Fremden ausdrücken möchten. Gesprochen wird über Klischees, Essen, Freundscha­ft und selbstvers­tändlich die wahre Liebe. Die bildungspo­litische Intention dieser Einrichtun­g ist offensicht­lich.

Braunstein, selbst ehemaliger Teilnehmer der Runde, verlässt sich dabei ganz auf die Position des stillen Beobachter­s: In ausschließ­lich halbnahen Einstellun­gen filmt die mitten im Kreis platzierte Kamera die Sprechende­n, fängt nur selten Reaktionen der anderen Teilnehmer ein. Hinter dieser formalen Strenge – erst nach einer halben Stunde verlässt der Film für kurze Zeit das Atelier – bleiben die individuel­len Lebensgesc­hichten, von jener der amerikanis­chen Studentin bis hin zu jener des afghanisch­en Flüchtling­s, im Verborgene­n.

Ausgerechn­et die Aufhebung der Unterschie­de, die das Gesprächsl­abor vorgibt und Atelier de conversati­on verlängert, gerät somit zum Paradoxon. Ab Freitag

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Wenn du redest, bin ich still, weil ich dich verstehen will: Im Glaskobel im Centre Pompidou muss man auch zuhören können.

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