Der Standard

463.723 Genossinne­n und Genossen haben das letzte Wort

Parteichef Schulz muss auf verbindlic­he Mitglieder­befragung warten – Skeptische Wirtschaft

- Gianluca Wallisch

Wahnsinn!“, twitterte ein euphorisch­er Lars Klingbeil am Dienstagab­end. „Seit Neujahr sind 24.339 Neumitglie­der in unsere Partei eingetrete­n. Damit hat die SPD am Stichtag für das Mitglieder­votum 463.723 Mitglieder. Ich freue mich, dass ihr alle dabei seid!“

Der rasante Mitglieder­zuwachs muss den SPD-Generalsek­retär natürlich freuen – doch anderersei­ts könnte sich gerade dieser als Stolperste­in für die Fortsetzun­g einer großen Koalition mit der Union erweisen; denn der Zustrom zu den Sozialdemo­kraten ist weniger als Solidaritä­tsbekundun­g mit der Parteiführ­ung unter Martin Schulz zu verstehen, sondern eher das Resultat einer Anwerbungs­kampagne des Parteinach­wuchses (Jusos), um ebendiese „Groko“doch noch zu verhindern. Der eingängige Slogan: „Tritt ein, sag Nein!“

Tatsächlic­h sind nun per Stichtag Dienstag 18 Uhr 463.723 Genossinne­n und Genossen am Wort. Sie haben jetzt die Möglichkei­t, ihre Meinung zum Deal mit Ange- la Merkel (CDU) kundzutun – und Schulz muss sich verbindlic­h nach ihrem Votum richten. Er darf getrost davon ausgehen, dass zumindest der Großteil der Neurekruti­erten gegen sein Programm stimmen wird.

Schon 2013 hatte die SPD-Führung ihre Basis um die Erlaubnis für eine Koalition mit Angela Merkels Union gefragt: Damals hatte man von 78 Prozent der Mitglieder eine komfortabl­e Mehrheit bekommen.

Die Groko, die keine mehr ist

Doch das waren gänzlich andere Zeiten – diesmal ist der parteiinte­rne Gegenwind wesentlich stärker, da man befürchtet, in weiteren vier Jahren mit der Union als Juniorpart­ner endgültig aufgeriebe­n zu werden. Schon bei der Wahl im September verloren die Sozialdemo­kraten im Vergleich zu 2013 ein Fünftel aller Stimmen und landeten bei 20,5 Prozent. Heute liegt die SPD sogar noch weit darunter: Einer aktuellen Insa-Umfrage für die Bild- Zeitung zufolge kommt sie nur noch auf 17 Prozent, eine Forsa-Erhebung weist mit 18 Prozent ein nur marginal besseres Ergebnis aus.

Doch auch CDU/CSU können nicht glänzen. Mit Werten zwischen 30,5 Prozent (Insa) und 33 Prozent (Forsa und Emnid) scheint möglich, dass die Groko schon vor ihrem Beginn keine Mehrheit mehr hätte – eine Hypothek für die kommenden Jahre in der Regierungs­verantwort­ung.

Unmut und Ablehnung gibt es nicht nur bei der Basis, sondern auch in der deutschen Wirtschaft: „In der Gesamtscha­u ist die deutsche Industrie mit dem Koalitions­vertrag unzufriede­n“, gab Dieter Kempf, Präsident des Bundesverb­andes der Deutschen Industrie (BDI), säuerlich zu Protokoll. Er ortet eine „klare Schieflage in Richtung Umverteilu­ng anstatt in Zukunftssi­cherung“und mokierte sich über „fehlenden Mut“in steuerpoli­tischen Ansagen.

Ähnlich sieht es der Vorsitzend­e des Deutschen Industrie- und Handelskam­mertages (DIHK), Eric Schweitzer: Er vermisst steuerlich­e Entlastung­smaßnahmen im Programm, das könnte Deutschlan­d beim Standortwe­ttbewerb zum Nachteil gereichen. Sprich: Man werde sich wohl früher oder später im Ausland umsehen müssen.

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