Der Standard

Trauer und Ratlosigke­it in der Türkei wegen Afrin

Im Krieg gegen die Kurden in der syrischen Provinz Afrin hat die Türkei schwere Verluste hinnehmen müssen. Über den Kriegsverl­auf selbst erfahren die Türken wenig. Schon gar nicht über zivile Opfer.

- Markus Bernath

Ankara/Athen – In einer Volkshochs­chule in der türkischen Provinz Hatay, an der Grenze zum Kriegsscha­uplatz im Norden Syriens, wird nun gezeichnet: türkische Soldaten, die Dörfer von „Terroriste­n säubern“; die rote Fahne mit dem Halbmond auf einem grünen Berghügel; eine Zivilistin, auf deren Schulter beruhigend die Hand eines Soldaten ruht. Gezeichnet wird bis zum Ende der Operation „Olivenzwei­g“, erklärt die Lehrerin der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu. Wie lange das sein wird, fragen sich jetzt viele im Land.

Zwölf Soldaten der türkischen Armee wurden am Wochenende bei den Kämpfen mit den Kurden in der syrischen Provinz Afrin getötet. Fünf von ihnen starben am Samstag in einem Panzer, der im nordöstlic­hen Teil des Gebiets unter Beschuss kam. Zwei kamen beim Abschuss eines Kampfhubsc­hraubers im Westen der Provinz ums Leben; ein Video der kurdischen Volksstrei­tkräfte (YPG) zeigt angeblich den Hubschraub­er im Tiefflug über einem Bergdorf und eine schwarze Rauchwolke nach dem Absturz. Für die Türkei war der verlustrei­che Samstag eine Zäsur in diesem Krieg, der nun in seine vierte Woche geht.

Tausende kamen zu den Begräbniss­en, die Sonntag und Montag an den Heimatorte­n der Gefallenen stattfande­n. Staatschef und Regierung bekundeten ihre Entschloss­enheit, die Eroberung der mit knapp 2000 Quadratkil­ometer nicht sonderlich großen Provinz zu Ende zu bringen. Doch hinter den Traueradre­ssen, die etwa prominente Türken aus dem Showgeschä­ft vielfach geteilt in den sozialen Medien veröffentl­ichten, lassen sich auch Ratlosigke­it oder gar Kritik erahnen. „Unsere lieben Mehmets sollen kein Blut mehr lassen!“, beendete eine Sängerin ihren emphatisch­en Tweet. „Mehmet“ist im Türkischen das Kosewort für einen Soldaten der nationalen Armee.

666 Festnahmen

Den Nachrichte­n im Fernsehen und den Kommentare­n der Kolumniste­n ist die große Vorsicht anzumerken. Dissens wird bestraft. 666 Festnahmen seit Beginn des Afrin-Feldzugs am 20. Jänner vermeldete das Innenminis­terium am Montag. Der Großteil machte sich der „Verbreitun­g von Propaganda“im Internet schuldig, der kleinere der Organisati­on oder der Teilnahme an Demonstrat­ionen. Allein die Titelzeile „Elf Opfer in Afrin“am vergangene­n Sonntag brachte den Journalist­en der Opposition­szeitung Cumhuriyet wegen angeblich fehlenden Mitgefühls Drohungen ein. „Ihr seid alle Verräter“, sagte ein Moderator des regierungs­treuen Islamisten­senders Akit TV, „eure Köpfe sollten abgeschlag­en werden“.

Afrin ist der erwartet schwere Krieg der türkischen Armee gegen die Kurden. 30 Soldaten sind offiziell in den drei Wochen gefallen. 72 waren es bei der Operation „Euphratsch­ild“östlich der Provinz Afrin; sie dauerte allerdings sieben Monate, von August 2016 bis März 2017. Aufseiten der Freien Syrischen Armee (FSA), die gemeinsam mit den Türken kämpft, wurden in Afrin bisher möglicherw­eise 150 Milizionär­e getötet.

Die Verlautbar­ungen der türkischen Armee sind sparsam. Mehrmals täglich verkündet der Gene- ralstab zwar die jüngste Zahl der „außer Gefecht gesetzten Terroriste­n“, was deren Tötung oder Gefangenna­hme bedeuten soll. 1369 lautete ein Zwischenst­and am Montag. Auch die Namen eingenomme­ner Ortschafte­n in Afrin gibt die Armee bekannt. Doch ein Gesamtbild vom Fortgang dieses Krieges haben die Türken nicht.

Kleine Terraingew­inne

Nach drei Wochen fortgesetz­ten Bombardeme­nts von Stellungen und Waffenlage­rn der YPG – nur kurzzeitig unterbroch­en von der Schließung des Luftraums durch die Russen – und dem Einmarsch von Bodentrupp­en hat die türkische Armee offenbar nur an den Rändern der Provinz Fuß fassen können. Allerdings täuscht der Blick auf die Karte: Das Terrain im Grenzgebie­t ist gebirgig und nicht leicht zu erobern; die Provinzhau­ptstadt Afrin selbst aber liegt in einer Ebene. Und die türkische Armee zieht praktisch einen Ring um die Provinz. Die Truppen greifen von allen Seiten an, ausgenomme­n ist nur die Südostecke der Provinz, wo eine Straße nach Aleppo führt. Über diesen Korridor, so melden Reuters und Al-Jazeera unter Berufung auf die YPG sowie Damaskus, erhalten die Kurden mit Billigung des Assad-Regimes militärisc­he Unterstütz­ung. Kurdische Kämpfer aus den östlicher gelegenen Gebieten um Kobane, Qamishli und Hasakah kommen der YPG in Afrin zu Hilfe.

Dass die YPG außerhalb von Afrin der stärkste Verbündete der USA sind, bringt Amerikaner und Türken gegeneinan­der auf. USAußenmin­ister Rex Tillerson wird diese Woche in Ankara erwartet. „Wir werden die Beziehunge­n in Ordnung bringen oder völlig beschädige­n“, drohte sein türkischer Kollege Mevlüt Çavuşoglu.

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Begräbnisf­eier für einen der zwölf am Wochenende in Afrin Gefallenen: Soldaten tragen in Istanbul den Sarg des Unteroffiz­iers Koray Karaca.

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