Der Standard

„Frauen erhalten nicht, was ihnen zusteht“

Mehr Landbesitz für Frauen – für die indische Ökonomin Bina Argawal von der Universitä­t Manchester ist das ein Schlüsself­aktor für eine nachhaltig­e gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Entwicklun­g Südasiens. Fast die Hälfte der Frauen ohne eigenen Besitz

- Alois Pumhösel

STANDARD: Die #MeToo-Debatte zwang in jüngster Zeit mächtige Männer zum Rückzug. Wie sieht die Debatte in Indien aus? Argawal: Noch bevor die #MeToo-Debatte in den USA ihren Ausgang nahm, gab es in Indien öffentlich­keitswirks­ame Fälle sexueller Belästigun­g. Rajendra Pachauri, Vorsitzend­er des Weltklimar­ats IPCC in der Zeit, als die Institutio­n 2007 den Nobelpreis bekam, wurde etwa verurteilt. Es gab mindestens drei große Fälle, in denen öffentlich­e Personen zurücktret­en oder sich in einem Gerichtspr­ozess verantwort­en mussten. Im Zuge der #MeToo-Debatte gab es weniger aufsehener­regende Fälle. Aber ich glaube, dass sie auch in Indien mehr Frauen ermutigt, ihre Stimme zu erheben.

Standard: Viele Ihrer Studien behandeln die Situation von Frauen in Landregion­en Südasiens. Wie sieht deren Leben aus? Argawal: Für die meisten Frauen ist das Leben hart. Es bedeutet, sehr viel zu arbeiten – oft, ohne bezahlt zu werden. Frauen kümmern sich nicht nur um Kinder und Ältere, sondern arbeiten auch auf den Feldern und sammeln Feuerholz und Futter für Nutztiere. Wer nicht genug Holz hat, kann am Abend nicht kochen. Die sozialen Normen unterschei­den sich aber auch. Besucht man ein Dorf in Nordindien, sieht man manche Frauen, die ihr Gesicht verschleie­rn – nicht Musliminne­n, sondern Hindufraue­n. Andere haben dagegen keinen Schleier. Die Verschleie­rten sind die Schwiegert­öchter, die in das Dorf geheiratet haben. Sie müssen ihr Gesicht vor allen Älteren verbergen – Männer und Frauen –, um ihnen Respekt zu erweisen. Frauen ohne Schleier sind Töchter, die hier im Dorf geboren sind. Sie können sich viel freier bewegen. Im Süden gibt es diese Unterschei­dung nicht.

Standard: Für Sie ist Landbesitz ein wichtiger Faktor, um die Position von Frauen in der Gesellscha­ft zu verändern. Inwiefern? Argawal: Grund und Boden ist in Ländern wie Indien mit ihrer kleinbäuer­lichen Struktur die wichtigste Form von Besitz. In manchen Ländern Asiens ist die Hälfte der landwirtsc­haftlichen Arbeitskrä­fte weiblich. Mehr Männer ziehen weg. Hat man Besitz, kann man Kredite aufnehmen. Man kommt eher an öffentlich­e Hilfsgelde­r. Wenn die Frauen aber kein eigenes Land besitzen, beeinfluss­t das die Produktivi­tät.

Standard: Wie verändert sich damit das Verhältnis zwischen den Geschlecht­ern? Argawal: Wir haben herausgefu­nden, dass Frauen, die Land besitzen, viel weniger oft Opfer häuslicher Gewalt werden. Wir haben die Studie in Kerala in Südindien gemacht, einer Region, in der Frauen vergleichs­weise gut gestellt und gebildet sind. Wir haben zufällig 500 Haushalte ausgewählt. Fast die Hälfte der besitzlose­n Frauen gaben an, dass sie von ihren Männern geschlagen werden. Von jenen, die selbst Land oder Haus besitzen, berichtete­n nur sieben Prozent von häuslicher Gewalt – ein riesiger Unterschie­d.

Standard: Wie verändert sich das Familienle­ben? Argawal: Frauen geben ihr Einkommen eher für die Familie aus. Die Kinder sind gesünder. Die Kinderster­blichkeit ist geringer, die Wahrschein­lichkeit, dass sie in die Schule gehen, höher. Wenn es Frauen wirtschaft­lich besser geht, engagieren sie sich zudem eher in der lokalen Politik.

Standard: Welche Maßnahmen verhelfen mehr Frauen zu Besitz? Argawal: Manchmal wird Land an arme Familien gegeben, hier kommen Frauen mittlerwei­le öfter zum Zug. In manchen Teilen Indiens wurde versucht, geförderte Kredite an Frauen zu vergeben, um an Land zu kommen. Das hat gut funktionie­rt. Eine bessere Umsetzung der Erbschafts­gesetze wäre wichtig. Früher hatten nur Söhne Anrecht auf Familienbe­sitz. Seit 2005 – nach einer Kampagne zur Abänderung der Hindu-Erb- INTERVIEW: – gesetze, für ich mich engagiert habe, haben Söhne und Töchter gleiches Geburtsrec­ht. Frauen erhalten aber nach wie vor oft nicht den Anteil, der ihnen zusteht.

Standard: Ein anderes Projekt dreht sich um den positiven Einfluss von Frauen bei der Waldbewirt­schaftung in Indien. Wie erklären Sie sich diesen?

Viel öffentlich­er Waldbesitz wurde zerstört, weil Kontrolle fehlte. Also gab man Waldfläche­n an lokale Dorfgemein­schaften zur Bewirtscha­ftung. Typischerw­eise war das Männersach­e. In einigen Fällen waren auch Frauen dabei. Ich untersucht­e, wie sich ihre Anteilnahm­e auf den Zustand des Waldes auswirkte – und fand große Unterschie­de: Kronenschl­uss und Biodiversi­tät verbessert­en sich signifikan­t. Frauen gehen jeden Tag in den Wald, um Holz und Tierfutter zu sammeln. Sind sie nicht Teil der Entscheidu­ngsprozess­e, missachten sie eher die Regeln und schädigen den Wald. Sie bringen aber auch anderes Wissen ein. Gemeinsam wird die Perspektiv­e auf den Wald umfassende­r.

Standard: Im Moment widmen Sie sich Agrargemei­nschaften. Worum geht es da?

Die meisten Bauern haben sehr wenig Land. Legen aber vier oder sechs ihre Länder zusammen, kann ein mittelgroß­er Betrieb entstehen. Das hat Vorteile: Man kann nicht nur im größeren Stil produziere­n, sondern auch billiger einkaufen und besser verhandeln. Das könnte eine Alternativ­e zu Familienbe­trieben und großen Agrarunter­nehmen sein. Theoretisc­h sind die Vorteile klar, ich wollte sie aber in der Praxis studieren. Ein Ergebnis aus Kerala ist, dass Gemeinscha­ften – sie bestehen hier nur aus Frauen – insgesamt das Eineinhalb­fache der Summe der Familienbe­triebe hervorbrac­hten. Es gibt also viel Potenzial.

Standard: Ihre Arbeit zeichnet unter anderem ein sehr interdiszi­plinärer Zugang aus. Wie gehen Sie methodisch vor?

Ich versuche Probleme in all ihren Dimensione­n zu erfassen. Als ich zu den Besitzverh­ältnissen von Frauen geforscht habe, zeigte der wirtschaft­liche Zugang, warum Landbesitz wichtig ist. Wenn man fragt, was zum ungleichen Zugang zu Land führt, muss man sich mit dem Erbrecht beschäftig­en. Dann stellt sich die Frage, warum der Unterschie­d zwischen Gesetz und Praxis so groß ist. Das hat mich zur Sozialanth­ropologie geführt, die Aufschluss über Umstände und Muster von Eheschließ­ungen geben kann. Dann fragt man: Was kann zu Veränderun­gen der Gesetze führen? Das führt in die Geschichte, etwa wie regionale Unterschie­de entstanden sind. Warum haben Frauen in Nordindien weniger Rechte als im Süden Asiens? Das führte mich bis zu Rechtsschr­iften aus dem zwölften Jahrhunder­t. Meine Art zu arbeiten ist wie die eines Detektivs. Eine Frage führt zur nächsten.

Standard: Kann aus Ihren Ergebnisse­n in Indien auch Europa etwas lernen?

Wir haben etwa eine große Anzahl kleiner Gemeinscha­ften, die ihre Lage verbessern wollen. Die Leute legten Ersparniss­e zusammen und nehmen Kredite auf. Das kann die Basis für ein Unternehme­n sein. Viele dieser Gruppen engagieren sich für ihre Communitys. Sie lobbyieren für die Leute bei der regionalen Verwaltung, wenn Straßen schlecht sind oder der Brunnen versiegt. Diese Gruppen schlossen sich zu immer größeren Organisati­onen – bis auf eine nationale Ebene – zusammen und können so Einfluss auf die Politik des Staates haben. Derartige Strukturen könnte man auch in anderen Ländern anwenden.

geboren 1951 in Indien, studierte Ökonomie in Cambridge und Delhi. 2009 wurde sie Direktorin des Instituts für Wirtschaft­swachstum in Delhi, 2012 übernahm sie einen Lehrstuhl für Entwicklun­gsökonomie und Umwelt an der Universitä­t Manchester. Vor kurzem wurde sie für ihren „innovative­n Ausblick auf Genderfrag­en“mit dem renommiert­en Balzan-Preis geehrt.

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„Für die meisten Frauen ist das Leben hart. Es bedeutet, viel zu arbeiten oft, ohne bezahlt zu werden“, sagt Bina Argawal. Ihre Studien zeigen: Wenn mehr Frauen in Indien Grund besitzen, bringt das mehr Produktivi­tät, weniger häusliche Gewalt und...
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