Der Standard

„Rache muss mit Augenmaß erfolgen“

- INTERVIEW: Philip Bauer

Um Missbrauch­svorwürfe aufzuarbei­ten, setzt der Österreich­ische Skiverband (ÖSV) auf einen Expertenra­t, dem auch der Psychiater Reinhard Haller angehört. Der Vorarlberg­er spricht über die befreiende Wirkung der Diskussion, warnt vor dem Missbrauch des Missbrauch­s in der #MeToo-Debatte und sieht die Gesellscha­ft im Umgang mit Sexualstra­ftätern auf dem Holzweg.

Standard: Die Missbrauch­svorwürfe im Skisport reichen bis zu 50 Jahre zurück, auch in der #MeToo-Debatte geht es oft um weit zurücklieg­ende Vorkommnis­se. „Warum erst jetzt?“ist eine wiederkehr­ende Frage. Wie lautet Ihre Erklärung? Haller: Weil jetzt endlich die Gelegenhei­t gekommen ist. Es ist nicht mehr verpönt, über das Thema zu sprechen. Das zeigt die öffentlich­e Berichters­tattung. Man fühlt sich ernst genommen. Man hätte solche Vorwürfe damals kaum gegen eine Skilegende erheben können. Das hätte sich einfach nicht gehört. Jetzt kann man sich bekennen. Die Zeit ist reif, um Dinge anzusprech­en, die über die Jahre hinweg tabuisiert wurden. Und das ist auch gut so.

Standard: Trotzdem bevorzugen die meisten Betroffene­n den Schutz der Anonymität. Ist der Gang an die Öffentlich­keit also doch nicht so unproblema­tisch? Haller: Wenn jemand darüber reden kann, aber anonym bleiben will, ist das ein Fortschrit­t. Denjenigen, die dann auch noch ihren Namen nennen, kann ich nur Respekt ausspreche­n. Wer ist schon gern das Opfer? Wer will diese Rolle einnehmen? Unter Jugendlich­en ist das Wort Opfer zum Schimpfwor­t verkommen. Gerade Missbrauch ist doch mit Scham und Stigmatisi­erung verbunden. Das Entscheide­nde ist aber nicht, den eigenen Namen oder jenen des Täters zu nennen, sondern das Erlebte zur Sprache zu bringen und damit das Unsägliche auszusprec­hen. Dadurch verliert es ein bisschen an Schrecken.

Standard: Hilft das Ausspreche­n bei der Bewältigun­g des Erlebten, auch wenn es Jahre oder gar Jahrzehnte zurücklieg­t? Haller: Die Erleichter­ung kann enorm sein. Es ist ein Eiterproze­ss, der sich unbemerkt unter der heilen Haut abspielt. Man sieht ihn nicht, aber er wühlt, er zermürbt, er beschämt. Irgendwann kommt der Chirurg und sorgt dafür, dass der Eiter abfließen kann. Genau dieselbe Funktion hat es, wenn ein Mensch über das sprechen kann, was ihn bedrückt. Das alles ist freilich noch keine Therapie. Die brauchen viele aber auch gar nicht.

Standard: Nun gibt es schwere Vorwürfe gegen eine Trainerleg­ende der Siebzigerj­ahre. Eine der Betroffene­n meinte, irgendwann müsse man für seine Taten geradesteh­en, man müsse büßen. Was können Sie diesem Gedanken abgewinnen?

Haller: Da habe ich schon ein bisschen meine Schwierigk­eiten. Strafe muss für den Beschuldig­ten auch den Sinn haben, dass er sich bessert. Bei einem 85-Jährigen ist das relativ schwierig. Natürlich hat der Mensch auch Rachebedür­fnisse, das ist ja nachvollzi­ehbar. Rache muss aber mit Augenmaß erfolgen. Sie ist nur psychologi­sch sinnvoll, wenn sie dem rechten Maße folgt. Der nun Beschuldig­te fragt, warum er das in dem Alter noch erleben müsse. Der mediale Pranger wird als sehr große Strafe empfunden.

Standard: Welche Konsequenz­en haben die Vorwürfe für einen Beschuldig­ten? Haller: Ohne jetzt irgendeine­n konkreten Fall zu beurteilen: Es gibt keine wirksamere Form, jemanden sozial hinzuricht­en, als den Vorwurf des sexuellen Missbrauch­s oder der Pädophilie. Ich will nichts entschuldi­gen, aber man muss diesen Aspekt schon auch betrachten. Man wird heute nicht mehr in einem Stadtviert­el an den Pranger gestellt, sondern weltweit für lange Zeit, vielleicht für immer, das ist schon eine schlimme Geschichte. Es kommt auch zu Falschanze­igen.

Standard: Kann ein zu Unrecht Beschuldig­ter aus der Situation noch irgendwie unbeschade­t herauskomm­en? Haller: Das ist fast unmöglich. Irgendwas wird schon gewesen sein, heißt es dann im besten Fall. Man könne es halt nicht mehr beweisen. Für den Beschuldig­ten ist es eine Katastroph­e, er ist sozial geschädigt. Den Missbrauch des Missbrauch­s muss man im Auge behalten.

Standard: Warum ist gerade der ÖSV in den letzten Monaten derart in den Blickpunkt gelangt? Haller: Wir leben in einer hypersexua­lisierten Welt. Das kann man ja nicht wegreden. Auf der einen Seite ist das sehr befreiend, auf der anderen Seite ist ein schlechtes Gewissen dabei. Dann braucht man psychodyna­misch noch ein schwarzes Schaf. Einen Ort, an dem man seine Wut abladen kann. Früher war das die Kirche. Sexueller Missbrauch ist gerade dort besonders verwerflic­h, weil es sich um eine moralische Instanz handelt, die das Gegenteil predigt. Sexuellen Missbrauch gibt es aber in allen autoritäre­n, abgeschott­eten Systemen, bis hin zur Familie. Und natürlich auch in Vereinen und Verbänden. In solchen Strukturen ist die Gefahr groß. Jetzt kommt der ÖSV dran, aber es werden andere auch noch drankommen.

Standard: Oft heißt es, die Debatte schade dem Sport. Zieht er nicht eher Nutzen daraus? Haller: Die ganze Diskussion dient der Sensibilit­ät. Ich habe vor ein paar Jahren im ÖSV ein Seminar zum Thema Missbrauch im Traineramt oder dergleiche­n gehalten, da war das Interesse gering, weil man es verdrängt und tabuisiert hat.

Standard: Sie sind in der Klasnic-Kommission, die der ÖSV eingericht­et hat, um Vorwürfe aufzuarbei­ten. Was darf man erwarten? Haller: Jeder, der missbrauch­t wurde, kann sich melden. Dann wird die Situation beurteilt und der Schaden bemessen. Braucht eine Person Therapie? In welchem Umfang? Ist ein Schmerzens­geld angemessen? Man kann das Ganze nicht mehr ungeschehe­n machen. Und viele wollen auch gar kein Geld. Ich bin da eher pragmatisc­h, es ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber zumindest eine kleine Entschädig­ung.

Standard: Sie haben sich in Ihrem Berufslebe­n intensiv mit Sexualstra­ftätern beschäftig­t. Wie geht die österreich­ische Gesellscha­ft, wie geht die Politik mit ihnen um? Haller: Alle politische­n Parteien bis zu den Grünen und den Neos haben nur eine Lö- sung: Strafen, Strafen, Strafen, noch strengere Strafen. Das Volk hat nur eine Lösung: Kopf ab, Rübe ab, Schwanz ab, für immer einsperren. Sie bekommen keine Chance auf Begnadigun­g wie jeder andere. Sie sind in der Regel ihre Familie los. Es kommt zu Scheidunge­n, die Kinder wollen nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Sie müssen Psychother­apiekosten tragen, Schmerzens­geld tragen, sie kommen auch zivilrecht­lich dran. Sie stehen in der Hackordnun­g im Gefängnis ganz unten. Verstehen Sie mich nicht falsch, jede von diesen Strafen ist gerechtfer­tigt, jede einzelne für sich. Aber alles zusammen ergibt sehr viel.

Standard: Die Aufmerksam­keit gilt vorwiegend den Opfern. Ist das nicht eine moralische Verpflicht­ung? Haller: Als ich ein junger Sachverstä­ndiger war, haben die Opfer überhaupt niemanden interessie­rt. Da ging es ausschließ­lich um die Täter. Was muss der für eine böse Mutter gehabt haben? Was muss der in seiner Kindheit durchgemac­ht haben? Wenn man darauf hingewiese­n hat, dass die Opfer wohl auch einiges durchgemac­ht haben, war das einfach uninteress­ant. Glückliche­rweise stehen jetzt die Opfer und deren Leid im Mittelpunk­t des Interesses. Das muss auch so sein. Man hat dadurch aber die Täterseite vernachläs­sigt.

Standard: Was läuft im Umgang mit den Tätern falsch?

Haller: In der politische­n Diskussion kommt Therapie als Gedanke gar nicht mehr vor. Ich fordere nicht Therapie statt Strafe wie im Suchtberei­ch, weil die Taten im Sexualbere­ich Opfer fordern. Aber man müsste mit Strafe und Therapie zweigleisi­g fahren. Auch im Hinblick auf eine sinnvolle Prävention. Der Gedanke, dass Täter zum Teil auch Störungen haben und Hilfe brauchen, ist komplett verschwund­en. Damit sollte man sich allerdings befassen.

Standard: Warum wird dieses Thema im Diskurs ausgeklamm­ert?

Haller: Wenn man in dieser Thematik Anerkennun­g will, muss man über die Opferseite sprechen. Wenn man über die Täterseite spricht, kommen die Buhrufe.

REINHARD HALLER (66) aus Vorarlberg ist Psychiater, Psychother­apeut und Neurologe. Als Gerichtsgu­tachter befasste er sich unter anderem mit Jack Unterweger, Franz Fuchs, Heinrich Gross und der Amokfahrt von Graz.

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Foto: APA / Dietmar Stiplovsek Reinhard Haller fordert mehr als nur Strafe für Sexualverb­recher.

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