Der Standard

Mahlzeit! ¡Buen apetito!

Vom antiken Rom, als man noch zur sechsten Stunde ruhte, bis hin zur Industrial­isierung, die die Mittagspau­se prägte, veränderte sich stetig die Kultur rund um die Mahlzeit in der Mitte des Tages.

- Bianca Blei

Mit Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany und dem Film Breakfast Club wurde die erste Mahlzeit des Tages in der populären Kultur verewigt. Bei Abendessen wiederum wurden Staatsvert­räge entschiede­n, das einsame Dinner der Miss Sophie mit ihrem Butler wurde Kult, und Leonardo da Vinci setzte dem letzten Abendmahl ein künstleris­ches Denkmal.

Das Mittagesse­n wurde hingegen zumeist stiefmütte­rlich behandelt. Außer vielleicht in der Szene in Harry und Sally, in der Meg Ryan am Mittagstis­ch einen Orgasmus vorspielte. Vielleicht liegt es an den zu unterschie­dlichen Bräuchen im Zusammenha­ng mit dem Mittagesse­n: In Indien kommt das aufgewärmt­e Essen per Fahrradkur­ier, in Japan wird auf heimische Gerichte bestanden, und in Südeuropa verschläft man die Mittagsstu­nde gar – oder handelt es sich doch nur um Klischees?

Zumindest gab es das „Mittagesse­n“nicht immer so, wie wir es heute kennen. Zwar wurde bereits im antiken Rom und im Mittelalte­r der Tag zur Mitte für ein Mahl unterbroch­en. Doch war die sogenannte „cena“quasi ein Dinner, eine Hauptmahlz­eit, die spätestens am frühen Nachmittag genossen wurde. Das deshalb, weil der Sonnenverl­auf den Tag maßgeblich bestimmte. Die Menschen standen früher auf und gingen folglich auch früher schlafen. Aßen sie rund um die Mitte des Tages, hatten sie bereits mindestens sechs Stunden gearbeitet. Mit der Erfindung des elektrisch­en Stroms wurde gemütliche­s Dinieren auch in den Abendstund­en möglich. Das Mittagesse­n mutierte zur leichten Mahlzeit in der Mitte des Tages.

Die Industrial­isierung brachte eine Wende: „Im 19. Jahrhunder­t mussten in Europa mehr Leute aus der Landwirtsc­haft in die Fabriken arbeiten gehen“, sagt Judith Ehlert, Entwicklun­gssoziolog­in am Institut für Internatio­nale Entwicklun­g an der Universitä­t Wien. Wegen Urbanisier­ung, Ressourcen­ausbeutung in den früheren Kolonien und neuer Technologi­en wuchs die Distanz zwischen der Produktion­sstätte der Lebensmitt­el und dem Ort, wo sie konsumiert wurden. Der Einsatz von Transportm­itteln wurde notwendig.

In Indien entwickelt­e sich beispielsw­eise ein unschlagba­res Transports­ystem, das sicherstel­lt, dass das Mittagesse­n vom Wohnort an die Arbeitsste­lle gelangt. Die sogenannte­n Dabbawalas, Zusteller, stapeln dutzende „Tiffins“(Blechdosen mit Essen) zumeist auf Fahrräder und manövriere­n sie durch Mumbai. So werden mehr als 200.000 Berufstäti­ge über Distanzen von bis zu 50 Kilometern beliefert. Dabei verwenden sie ein Codesystem, das nur unter den Dabbawalas weitergege­ben wird. So gelingt es ihnen, auf eine Million Lieferunge­n weniger als drei Fehler zu machen.

Zu große Distanz

Wie Menschen Mittagspau­se machen, hängt weniger von Staatsgren­zen ab als von ihrer konkreten Arbeits- und Lebenssitu­ation und davon, ob sie in städtische­n oder ländlichen Gebieten arbeiten, sagt Brigitta Schmidt-Lauber, Leiterin des Instituts für Europäisch­e Ethnologie in Wien. Dabei beobachtet Schmidt-Lauber im städtische­n Bereich, dass sich die Tradition des familiären Mittagesse­ns „verflüchti­ge“. Begründet sei das in der Vielfältig­keit der Lebensform­en, weil Jobs andere Rhythmen vorgeben oder die Distanz zum Wohnort zu groß ist.

Das beobachtet auch Ehlert, die unter anderem zum Ernährungs­wandel in Vietnam forscht. Dort führten in der städtische­n Mittelschi­cht unter anderem die Berufstäti­gkeit der Frauen und Ganztagssc­hulen für Kinder dazu, dass die Menschen zu Mittag außerhalb essen und am Abend oder an Sonn- und Feiertagen die familiäre Mahlzeit pflegen. „Traditione­ll steht eine große Schale Reis auf dem Tisch und kleine Schälchen vor jedem Familienmi­tglied“, erzählt Ehlert: „Die anderen Gerichte reihen sich um diese Aufstel- lung. In welcher Reihenfolg­e und wie viel Essen die Menschen auf den Tisch bekommen, hängt von sozialen Normen wie Geschlecht und Alter ab.“Zu Mittag dagegen essen die Leute in Restaurant­s und Garküchen individuel­l und von einem einzigen Teller. Ob sich hier ein „kulinarisc­her Individual­isierungst­rend“durchsetze­n werde, ist für die Forscherin noch nicht ausgefocht­en.

Durchgeset­zt in der öffentlich­en Wahrnehmun­g hat sich dagegen das Klischee des Spaniers oder Italieners, der nach dem Mittagsmah­l eine Runde schläft. Ursprüngli­ch wurde die Siesta bei den Römern etabliert und leitet sich von „Sexta“, der sechsten Stunde, ab, in der die Römer ruhten.

Heute ist die Siesta gar nicht mehr so verbreitet wie allgemein angenommen. Bei einer Umfrage unter Spaniern im Juni 2017 gaben 60 Prozent der Befragten an, noch nie Siesta gehalten zu haben. Nur 18 Prozent sagten, dass sie sich manchmal nach dem Essen hinlegen. Nach dem Spanischen Bürgerkrie­g war die Praxis des mittäglich­en Kurzschlaf­es dagegen noch weit verbreitet. Damals hatten Spanier oft zwei Arbeitsste­llen, um die Familie zu ernähren. Die Siesta war die Pause zwischen den Jobs.

Nationale Identität

Für Daniel Kofahl, Ernährungs­soziologe am deutschen Büro für Agrarpolit­ik und Ernährungs­kultur, gibt es beim Mittagesse­n zwei wettstreit­ende Modelle: eines, das die nationale Identität stärkt – wozu Menschen aus Prinzip zu ihrer Landesküch­e greifen. Und eines, das den gesundheit­lichen Aspekt in den Mittelpunk­t stellt – bei dem nationale Identität kaum eine Rolle spielt.

So definierte­n sich Japaner über das Essen stark als Nation. In Deutschlan­d oder Österreich sieht Kofahl dagegen einen Wandel – auch wegen der jüngsten Migrations­bewegungen. „Viele Kulturen, die hier leben, essen zu verschiede­nen Zeiten.“Syrer etwa frühstücke­n ausgiebige­r und essen später zu Mittag.

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