Der Standard

Der mühsame Weg zu sinnvollen Volksentsc­heiden

Österreich entdeckt zunehmend die direkte Demokratie. Damit aber Volksabsti­mmungen eine Gesellscha­ft nicht spalten, sondern ihr Ergebnis allgemein akzeptiert wird, müssen sie richtig begleitet und dokumentie­rt werden – wie in der Schweiz.

- Thomas Jakl

Zentrale Weichenste­llungen einer demokratis­chen Industrieg­esellschaf­t können in formell und kulturell unterschie­dlicher Art und Weise vonstatten­gehen. Formell treffen die politische­n Entscheidu­ngsträger kraft ihres verfassung­smäßig festgeschr­iebenen Mandats schlicht die nötigen Beschlüsse. Sei es, dass die politische­n Mandatare (der Regelfall in einer repräsenta­tiven Demokratie) im parlamenta­rischen Prozess zu einer Lösung gefunden haben oder diese Lösung in einer Abstimmung vom Volk selbst getroffen wurde.

Eine Frage der demokratis­chen Kultur hingegen ist es, wie diese Entscheidu­ngen begleitet und aufbereite­t werden: Die Palette reicht von klandestin­en Konsultati­onen der wichtigste­n beteiligte­n Kreise bis hin zu aufwendige­n partizipat­iven Formaten, Plattforme­n (inklusive begleitend­er Dokumentat­ionen), mithilfe derer die Zivilgesel­lschaft eingebunde­n wird. Der letztere Weg ist der langwierig­ere und steilere. Ihn dennoch zu wählen lohnt, weil an seinem Ende die politische Weichenste­llung auch von einer neu geschriebe­nen Passage des Gesellscha­ftsvertrag­es getragen wird – damit also Teil der „DNA“einer Gesellscha­ft, und damit einer Nation wird.

Die von der modernen politische­n Philosophi­e als „Gedankenex­periment“umschriebe­ne Figur des Gesellscha­ftsvertrag­es gestattet, den Reife- und Lernprozes­s einer Gesellscha­ft abzubilden. Dabei ist kein tatsächlic­hes, ausformuli­ertes Vertragswe­rk gemeint, sondern vielmehr ein Prozess, der die verschiede­nen Zugänge zu einer Thematik darstellt und diese ebenso dokumentie­rt wie die Reaktionen darauf. Ein Prozess, der den Entscheidu­ngsprozess begleitet, und die Zwischen- wie die Endergebni­sse „sichert“.

Wenn in der medialen Berichters­tattung immer wieder behauptet wird, dieses oder jenes Thema würde das Land „spalten“, so verstellt dieser Zugang den Blick auf den trotz strittiger Fragen stets vorhandene­n Grundkonse­ns an Fakten und Wertvorste­llungen. Allzu oft bleibt dieser Kitt, dieses Fundament als Basis der Meinungsvi­elfalt verborgen, da die Begleitung politische­r Entscheidu­ngen durch die Zivilgesel­lschaft unterbleib­t. Dies gilt in gleichem Maße für Entscheidu­ngen, die direkt vom Volk getroffen werden, wie für jene, die dessen parlamenta­rische Repräsenta­nten treffen.

So hat die Schweiz in jüngster Zeit zu zwei Themen Volksabsti­mmungen abgehalten, die für ihre zukünftige Entwicklun­g besonders wichtig sind. Während die Eidgenosse­n sich im September 2016 mehrheitli­ch gegen die „Volksiniti­ative für eine nachhaltig­e und ressourcen­effiziente Wirtschaft“aussprache­n, fand die Vorlage zum „Energieges­etz“als schweizeri­sche Ausformung der Energiewen­de mit 58,2 Prozent eine klare Mehrheit.

Präzise Analyse

Die Fragestell­ung der Abstimmung sowie der dahinterli­egende Diskussion­sprozess werden ebenso wie eine Analyse des Ergebnisse­s dokumentie­rt und aufbereite­t. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann sich in beliebiger Detailtief­e mit Thema und Sichtweise­n auseinande­rsetzen. Dem dient nicht nur (seit mehr als vier Jahrzehnte­n) ein für jede Abstimmung erstelltes Kompendium – das „Abstimmung­sbücheli“, mit einer Auflage von 5,4 Millionen die auflagenst­ärkste Publikatio­n der Schweiz –, sondern auch Videos, Statistike­n, Meinungen, alles gedruckt anzuforder­n oder über die Website der Regierung einzusehen. Das „Bücheli“zum Energieges­etz ist 60 Seiten stark und stellt nicht nur die zur Abstimmung stehende Thematik vor, sondern auch wie es zur Abstimmung kam und welche Argumente Befürworte­r wie Gegner ins Treffen führen.

Das Ergebnis der Abstimmung wird einer ausführlic­hen Bewertung unterzogen. In „Voto“Studien wird auf Basis einer repräsenta­tiven Umfrage analysiert, welche Argumente in welchen Bevölkerun­gsgruppen ausschlagg­ebend waren. Diese Studie stellt auch dar, ob die Fragen klar formuliert waren und welche Informatio­nsquellen herangezog­en wurden. Das „Bücheli“ist mit Werten um die 90 Prozent hier nach den Printmedie­n stets in einer Spitzenpos­ition.

Die „Voto“-Studie zur Energieges­etzabstimm­ung macht deutlich, dass fast vier Fünftel der Schweizer von der Machbarkei­t des Atomaussti­egs überzeugt sind. Auf der anderen Seite war der Vorschlag zur Bundesverf­assung „Bis ins Jahr 2050 wird der ‚ökologisch­e Fußabdruck‘ der Schweiz so reduziert, dass er auf die Weltbevölk­erung hochgerech­net eine Erde nicht überschrei­tet“, für das Wahlvolk zwar positiv besetzt, aber in seinen Konsequenz­en zu unklar, und daher erschien er auch inhaltlich als nicht umsetzbar.

In der Schweiz wird so mit der sorgfältig­en und ausgereift­en Do- kumentatio­n rund um jede Volksabsti­mmung ein Kapitel des Schweizer Gesellscha­ftsvertrag­es geschriebe­n. Allen Bürgern ist erschließb­ar, wie es zur Entscheidu­ng kam und welche Argumente ausschlagg­ebend waren. Grundsatze­ntscheidun­gen derartig zu begleiten, schafft in der Gesellscha­ft auch Identifika­tion mit der Entscheidu­ng – es war ja „unsere“.

Für einen breiten Konsens

Dieses Schaffen von Bewusstsei­n hat jedoch keineswegs einen Volksentsc­heid als Voraussetz­ung. Jeder politische Entscheidu­ngsprozess kann so begleitet und aufbereite­t werden, dass der Erfahrungs­gewinn für die Gesellscha­ft erhalten bleibt. Grundsatzf­ragen wie jene zur zukünftige­n Ausgestalt­ung der Energiever­sorgung (Stichwort „Dekarbonis­ierung“) sollten von einem breiten gesellscha­ftlichen Konsens getragen werden, da alle massiv betroffen sein werden. Gleiches gilt für ein grundsätzl­iches Bekenntnis zum eigenen Land als „Industries­tandort“– angereiche­rt um die Zielvorste­llungen einer ressourcen­effiziente­n „Kreislaufw­irtschaft“.

Sollen große Veränderun­gen von der Gesellscha­ft getragen und so Teil ihres „Vertrages“werden, dann muss ihr die Teilhabe und Identifika­tion mit diesem Wandel ermöglicht werden. Es muss nicht das „Bücheli“unserer Nachbarn sein. Die Wege zu dieser Teilhabe sind ebenso vielfältig wie die Wege zu den Entscheidu­ngen selbst.

THOMAS JAKL ist Biologe und Abteilungs­leiter im Ministeriu­m für Nachhaltig­keit und Tourismus.

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Schweizer Wählerinne­n und Wähler stehen vor der Stimmabgab­e bei einem umstritten­en Referendum Schlange. Davor haben sich alle umfassend und objektiv über die Fragestell­ung informiere­n können.
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Foto: privat Biologe Thomas Jakl: Ziel ist der Gesellscha­ftsvertrag.

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