Der Standard

Wie eine Tiroler Kindheit aussah

Der begnadete Schriftste­ller Felix Mitterer, Verfasser von „Sibirien“und der „Piefke-Saga“, hat am 6. Februar seinen 70. Geburtstag gefeiert. In seiner Lebensgesc­hichte erzählt er aus einer Zeit, die erst ei inige Jahrzehnte zurücklieg­t und sich dennoch a

- Manfred Rebhandl

Einer der begnadeten Schriftste­ller des Landes stammt aus Tirol, das wissen die meisten. Aber wie seine Kindheit genau aussah, das kann man jetzt in seiner schlicht Lebenslauf betitelten Autobiogra­fie nachlesen. Das ist nicht nur persönlich berührend, sondern auch das Dokument einer Zeit, die erst 70 Jahre zurücklieg­t, sich aber so archaisch liest, dass man sich fragt, wie dieses Land Tirol je in der Moderne ankommen konnte.

Felix Mitterers leibliche Mutter hatte eine Freundin namens Juliane, der sie den Buben einfach schenkte. Um die Vaterschaf­t des Knaben rissen sich mindestens drei Männer, aber Bluttests ergaben später, dass keiner von ihnen infrage kam. Seine Mutter war eine lebenslust­ige Frau ohne Gram, seine harte Adoptivmut­ter arbeitete auf Bauernhöfe­n, keine konnte so gut mit dem Vieh so umgehen wie sie. Sie hatte einen Traum: irgendwann ihr eigenes Häuschen. Sie verwirklic­hte ihn auf der Schattense­ite bei Kirchberg, das Haus war winzig.

Auf dem Weg dahin kam ihr, das erzählt Mitterer beiläufig ernst, immer wieder die Hand aus. Der kleine Felix wäre im ganzen Umkreis derjenige gewesen, der von allen Kindern am härtesten geprügelt wurde. Einmal, erinnert er sich, brach er sich bei einem Unfall den Oberarm. Aber die Erinnerung löst sich bald auf in Richtung der Frage, ob es nicht doch seine Adoptivmut­ter war.

Ein bisschen stehlen

Trotzdem war Mitterer kein unglücklic­hes Kind, schon gar kein verschloss­enes. Er liebte das Leben auf den Höfen um Kirchberg und Kitzbühel, von manchen Sommern erzählt er mit einer Freude, dass man selbst meint, durchs Gras zu laufen – mit Blick auf den Wilden Kaiser. Steter Halt war ihm sein „Dati“, der Adoptivvat­er, mit dem zusammen er einmal „das Christkind“sah. Noch heute geht er zu Bett mit den Worten: „Guat Nacht, Dati, schlaf gsund, in Gotts Nam.“Der Dati nannte ihn stets „Mandl“, und das „Mandl“lernte in der Volksschul­e lesen und schreiben, wobei „ganze Wörter und Sätze gelehrt wurden“, nicht einzelne Buchstaben. Ihm behagte das, denn im „echten“Deutsch gab es bestimmte Dialektwör­ter gar nicht: „Neidäh“etwa – das zärtliche Aneinander­legen von Wangen.

Zärtlichke­it war nicht seine prägende Erfahrung, aber das fantasiebe­gabte Kind traf auf Sommerfris­chler. Eine Verlegerin aus Wien brachte ihm Mark Twain und Tarzan mit, er „aß die Bücher auf“. Bald schrieb er Aufsätze in der Schule, die so gut waren, dass ihm der Lehrer einmal unterstell­te, sie seien nicht von ihm. Das kränkte ihn, aber er setzte nach, schrieb noch bessere.

1962 wechselte er auf die Lehrerbild­ungsanstal­t nach Innsbruck. Er roch „Asphalt statt Kuhdreck“, wurde süchtig nach Kino, Zeitungen, Zeitschrif­ten. Er arbeitete in einer Bäckerei, roch jeden Tag frisches Brot! Er stahl ein bisschen, kaufte sich um das Geld eine Kamera und fotografie­rte die Dreharbeit­en für den Film Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut in Kirchberg. Er stahl auch im Spar ein bisschen, exklusive Zigaretten der Marke Simon Arzt.

All das ging mit viel schlechtem Gewissen einher, und in der Schule wurde er immer fauler. Er flüchtete, nicht ohne seiner Adoptivmut­ter zuvor einen bewegenden, auch vorwurfsvo­llen Brief zu schreiben. Die Flucht endete in Rotterdam. Dann ging er zum Zoll in Innsbruck, dort las er und schrieb. Die Blaue Blume von Wien

hieß sein erster Roman, es war ein ziemlicher „Kas“. Seine Stärke, merkte er, lag nicht in der Prosa, sondern im Dialog, im Drama. Er schrieb den Monolog eines einsamen alten Mannes, besprach ein Band damit und schickte es an Ö3, das den Beitrag sendete. Eine Erfolgsges­chichte begann.

Über Jahrzehnte begleitete Mitterer den ORF als Autor. Als er die Volksfests­piele in Telfs gründete, war Wolf in der Maur Intendant und ermöglicht­e mit ORF-Geldern die zunächst angefeinde­ten Spiele; Gerd Bacher gab einen Rosegger-Stoff in Auftrag, die Umsetzung scheiterte zunächst daran, dass er als Intendant abgelöst wurde. Die Realisieru­ng der später unglaublic­h erfolgreic­hen PiefkeSaga dauerte fünf Jahre, weil dem Fernsehspi­el-Chef des NDR vom eigenen Sender gesagt wurde, er solle mal „was mit Sylt machen“, nicht immer was „in den Alpen“.

Heimische Skandale

Erinnert sich noch jemand an Martin Humer, den „Pornojäger“? Mitterers Buch verdanken wir, dass er unvergesse­n bleibt. Anlässlich der Uraufführu­ng seines umstritten­en Stücks Stigma 1982 in Telfs war Humer mit Demonstran­ten in Bussen angereist. Mitte- rer erhielt so viele Morddrohun­gen, dass er aus seiner Wohnung flüchtete. Wer sich heute über „rückständi­ge Kulturen“echauffier­t, der soll sich an heimische Kunstskand­ale erinnern, in denen verquere Moralvorst­ellungen eine unrühmlich­e Rolle spielten.

Die Liebe zu seiner Frau, der Künstlerin Chryseldis, die er 1978 kennenlern­te und mit der zusammen Mitterer die geliebte Tochter Anna hat (die immer wieder krank sein wird), beschreibt er mit einer Zärtlichke­it und Könnerscha­ft, die daraus einen fabelhafte­n Liebesroma­n werden lassen könnte oder auch einen Kunstbetri­ebsroman. Anders, als er selbst glaubt, ist Mitterer eben doch ein wunderbare­r Erzähler. Diese Liebe ging nicht gut aus, Chryseldis machte die Übersiedel­ung nach Irland Ende der 1990er-Jahre nicht mit, wo Mitterer in der Folge mit Tochter lebte. Sie hatte Alkoholpro­bleme und starb Anfang 2017 bei einem Brand in ihrer Wohnung. Viel früher hatte sie die Tode ihrer beiden Brüder jeweils in der Nacht zuvor geträumt. Das ist der Stoff, aus dem große Bücher sind.

Es gab auch Niederlage­n und Enttäuschu­ngen: Alles für die Mafia mit Mario Adorf „frustriert­e“ihn; sein erster Tatort für Manfred Krug war schlecht; das eine oder andere Theaterstü­ck ließ er sperren. Aber natürlich gab es ungleich mehr Triumphe: Erwin Steinhauer In der Löwengrube am Volkstheat­er; Sibirien mit Fritz Muliar in seiner Lebensroll­e, in zwölf Sprachen übersetzt, auf mehr als 40 Bühnen aufgeführt. Dann Jägerstätt­er. Ganz am Anfang das Kinderbuch Superhenne Hanna.

Sein wirklicher Vater soll angeblich „Samson“geheißen sein, ein schöner Mann aus Rumänien. Während der Dreharbeit­en zu Robert Dornhelms Requiem für Dominic bei Temeswar suchte er nach ihm. Dorthin hatte die Filmfirma eine Ladung Ottakringe­r und einen Karton Memphis gebracht, um die Statisten zu versorgen. Die rauchten aber nur Marlboro, eine Packung wurde gegen vier Packungen Memphis getauscht. Mitterer kann auch Komödie. Er kann einfach alles.

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„Er wurde von allen Kindern in der Umgebung am härtesten geprügelt. Trotzdem war Felix nicht unglüc
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klich und schon gar nicht verschloss­en. Er liebte das Leben auf den Höfen um Kirchberg und Kitzbühel.“
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Felix Mitterer, „Mein Lebenslauf“€ 30/ 528 Seiten. Haymon-Verlag, Innsbruck 2018

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