Der Japaner aus dem Böhmerwald
Bernhard Setzwein über Johann Graf Coudenhove-Kalergi und seine Zeit
Sie wissen, dass nur wenig in meinem Leben mit den Maßstäben gewöhnlicher Menschen zu messen ist.“Es ist eine stolze Behauptung, mit der ein schmales Buch einsetzt, das im neuen Roman des in der Oberpfalz lebenden Romanciers und Hörfunkautors Bernhard Setzwein erst im Finale auftaucht. Dabei ist es der Generalbass seines Romans Der böhmische Samurai. Denn: Es spricht der böhmische Samurai selbst.
Sein Name war Johann Graf Coudenhove-Kalergi. Er war der älteste Sohn des Polyhistors, Privatgelehrten und sechzehn Sprachen beherrschenden Diplomaten Heinrich Coudenhove-Kalergi, der 1906 völlig überraschend im Alter von nur 46 Jahren auf dem Familienbesitz Schloss Ronsperg, heute Poběžovice, in Böhmen verstarb. Seine Mutter Mitsuko war Japanerin – weshalb er und seine sechs Geschwister als „Japaner aus dem Böhmerwald“nicht nur in der Wiener Gesellschaft verspottet wurden. Sein Bruder Richard (1894–1972) ist der heute nahezu vergessene Vordenker des geeinten Europa. Auch wenn ihm in Wien-Hietzing ein Park gewidmet ist, sein Konzept eines „Paneuropa“, 1922 zu Papier gebracht, ist im Lauf der Jahre partiell Realität geworden, zu anderen, wesentlicheren Teilen ist es überholt. Die Bekannteste dieser Familie dürfte heute Richards Tochter, Standard- Kolumnistin Barbara Coudenhove-Kalergi sein.
Es ist schon recht merkwürdig, dass sich bis heute kein österreichischer Historiker an die Aufgabe gemacht hat, die weitverzweigte Geschichte dieser Familie zwischen Brabant, Paris, Böhmen und Amerika aufzuschreiben. Denn Stoff gäbe es im Überfluss.
Flucht nach Regensburg
Johann widmet Setzwein nun seinen Roman Graf Hansi, dem Schlosserben, erotischen Bruder Leichtfuß und exzentrischen Charakter, dessen Kennzeichen ein Lorgnon vor dem linken Auge war und der nach 1919, als die finanziellen Quellen stetig austrockneten, dennoch daran ging, Ronsperg künstlerisch auszugestalten zu lassen. Er ehelichte mit Lilly Steinschneider aus Budapest eine der ersten Pilotinnen ÖsterreichUngarns, die Verbindung scheiterte bald. Im Gegensatz zu seinen Brüdern Richard, der in die USA floh, und Gerolf, der im Dienst der Nazi-Diplomatie kurz als Übersetzer Heydrichs in der Tschechoslowakei diente, überstand der sich durch und durch naiv gebende Johann, eine Spätrokoko-Erscheinung, im schattigen Winkel: Das Leben war ihm ein Fest. Was nicht verhinderte, dass er 1945 interniert wurde. Unter abenteuerlichen Umständen gelang ihm die Flucht nach Bayern. Dramaturgisch geschickt konfrontiert Setzwein die eindringlich geschilderten Haftbedingungen mit der graziösen, unwiederbringlich untergegangenen Vergangenheit.
Nach seiner Flucht landete Graf Hansi in Regensburg. Dort, in der erzkatholischen Provinzstadt an der Donau, war er ein amouröser Paradiesvogel. Nahezu mittellos, schlug er sich als nassauernder Bohemien, liebevoll geduldeter Stammgast im Kaffeehaus und als Mansardenexistenz durch. Was ihm geblieben war an Memorabi- lien an Ronsperg, passte in einen kleinen Koffer. Im Jahr 1965 starb er 73-jährig (wobei Setzwein verschweigt, dass er noch sehr spät eine Ehe eingegangen war).
Am Ende taucht Setzwein in die Literaturszene des Jahres 1967 ein. Er rapportiert Reales auf der Frankfurter Buchmesse, auch wenn es surreal anmutete. Denn das Rixdorfer Künstlerkollektiv, Ali Schindehütte, Uwe Bremer, Johannes Vennekamp und Günter Bruno Fuchs, Dichterkünstler und professionelle Handdrucker, präsentierte im kleinen Merlin-Verlag, dem deutschen Zuhause von Jean Genet, Georges Bataille und des Marquis de Sade, ein neues Buch. Der Titel klang so frivol abwegig wie leicht degoutant: Ich frass die weiße Chinesin. In Gold gehalten der Buchumschlag, darauf die Skizze einer korpulenten unbekleideten Frau, deren Körper mit punktierten Linien markiert war, als handele sich um die Darstellung eines Fleischkundeplakats beim Fleischhauer – Kugel, Nuss, Unterschale, Bürgermeis- terstück. Darüber prangte, in Rot, ein italienischer Autorenname „Duca di Centigloria“, Johanns Wahlname. Diese bizarre, krasse Prosa stammte von CoudenhoveKalergi; jubiläumsungenau wurde es zu seinem 29. Todestag wieder aufgelegt, heute sind beide Ausgaben zu erschwinglichen Preisen im Antiquariat zu finden.
Diese finale Episode hat Witz und Schwung, jene erzählerische Vitalität, die zuvor etwas abgängig ist. Nicht wenige entschiedene Striche hätten diesem mehr als nur gelegentlich arg behäbigen ´Roman gutgetan. Hier wie auch im Anmerkungsteil versteckt Bernhard Setzwein feinsinnig seine literarischen Bezüge auf Referenzfiguren wie zum Beispiel auf Günter Bruno Fuchs, den heute fahrlässig vergessenen Autor und Grafiker, auf den Tschechen Vladislav Vančura (1891–1942) und auf Gregor von Rezzori, den grandseigneuralen Außenseiter der deutschsprachigen Literatur nach 1945.