Kärnten – Schweigen in Vergangenheitsform
Verdrängen, Vergessen, Verschweigen – das war lange der politische Triathlon im Süden. Aber auch in Klagenfurt und Umgebung gibt es Hoffnung. Anmerkungen zur geistigen Verfassung Koroškas.
Unzählige Male habe ich es gesagt und geschrieben und sage und schreibe es auch jetzt und werde es wieder sagen und schreiben: Ich habe nicht aufgezeigt, als der Lehrer anlässlich der bevorstehenden Feiern zum siebzigsten Jahrestag der Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit der nach 1918 von Jugoslawien beanspruchten, mehrheitlich von Slowenen besiedelten Gebiete in Südkärnten fragte, wer von uns Schülern Slowenisch oder Jugoslawisch, ja, er sagte Jugoslawisch, als Muttersprache habe. Niemand hat aufgezeigt, damals in der achten Klasse am Stiftsgymnasium der Landrandhauptstadt, deren Namen in den Erzählungen der da Eingeborenen oder sonstwarum Heimatberechtigten schon oft und oft auf den Anfangsbuchstaben heruntergebrochen wurde, wie man es von Zeitungsberichten über Gewaltverbrecher, Verbrechensopfer und Tatorte kennt. Heilfroh war ich, Kind einer jugoslawischen Mutter, dass in meinem österreichischen Reisepass unter „Besondere Kennzeichen“„Keine“stand. Und warum?
Von meinem liebsten Aussichtspunkt aus sieht man die ganze Landeshauptstadt – oder zumindest die halbe. Er befindet sich wenige Schritte vor dem Eingang der Kreuzberglkirche, beim Tor zum Kreuzweg. Unterhalb des Kreuzwegs bildet die Radetzkystraße als Schneise im dichten Häusermeer eine Sichtachse zur großen Pfarrkirche im Stadtzentrum. Von einem alten Türmer ging die Sage, er habe stets zuverlässig Alarm geschlagen, sobald ein Feuer ausbrach, mit seiner Glocke auch den einen oder anderen Nachtschwärmer zur Heimkehr gemahnt. Als Zeichen seiner Wachsamkeit habe er von Zeit zu Zeit in ein Horn geblasen, einmal gegen Norden, einmal gegen Osten, einmal gegen Westen, niemals aber gegen Süden, um die dort auf dem Acker jenseits der Stadtmauern begrabenen Toten nicht zu stören. Ah, Gefahr aus dem Süden! Manchmal, wenn ich nicht weiterweiß, sitze ich auf der höchsten jener Steinstufen, die zum ersten Plateau des Kreuzwegs hinunterführen, an das hüfthohe schmiedeeiserne Geländer gelehnt. Zuoberst ist dem vierflügeligen Geländer, dessen beide mittlere Elemente als Schwingtüren dienten, der Schriftzug LANDESGEDÄCHTNISSTÄTTE eingefügt. Ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war der Kreuzweg umgestaltet. Tut man die Schwing- türen weit genug auf, bleiben links und rechts die Wortbruchstücke LANDE und STÄTTE stehen, während man SGEDÄCHTNIS zweiteilt – und welch bittere Ironie, weil hier durchaus nur der halben Wahrheit gedacht wird: Wohl hat man die einzelnen Leidenswegstationen den tapferen Kriegern, leidenden Müttern und hilfreichen Pflegeschwestern im Zweiten Weltkrieg gewidmet, nicht aber den durch die Nazis und ihre Büttel Gemordeten oder an Leib und Seele Verwundeten.
Ein Versehen? Nein! Das selektive Geschichtsbewusstsein hat in Kärnten bis heute System. Jahrzehntelang wurden die Schicksale der Opfer des Faschismus, und da vor allem auch die der Kärntner Slowenen, verheimlicht und verschleiert. Wollten sich Überlebende oder deren Nachkommen empören, wurden sie rasch ermahnt, die Vergangenheit ruhen- zulassen – meist ausgerechnet von jenen, die ihre schwindligen Geschichtskonstruktionen bei jeder Gelegenheit mit Pomp und Trara hochhielten und mit ihren Fahnen, Kränzen und Männergesängen ewig im eigenen Gestern verharrten.
Wendet man den Blick in Richtung Norden, sieht man den Ulrichsberg. Heute noch kreuzen alljährlich um den Gedenktag der Volksabstimmung von 1920 Politiker, Bundesheerrepräsentanten und kirchliche Würdenträger an seinem Gipfel auf, um das einst bei alten und neuen Nazis beliebte Kriegsveteranentreffen als Fest der Völkerverständigung und des Friedens fortzuführen. Frieden? Dass ich nicht lache! Dass ihr nicht lacht! Das Lachen gehört zu den Männlichkeitsriten, wie das Pfeifen und Marschieren. Immer noch befeuern die Inszenierungen zum 10. Oktober mit Beschwörungen von vaterländischer Ehre und Treue die Kärntner Urangst vor einer neuerlichen Landnahme der Slawen. Immer noch wird, wer gegen die deutschnationale Interpretation der Kärntner Geschichte opponiert, reflexhaft als Nestbeschmutzer und Kärntenhasser diffamiert. Immer noch lässt sich aus lügnerischer Geschichtserzählung und Diskriminierung politisches Kleingeld schlagen. Erst im vergangenen Jahr sprach sich die Kärnt- ner ÖVP in der Debatte zur Landesverfassung gegen einen minderheitenfreundlichen Passus aus. Allerdings, und das sei laut und deutlich gesagt, gibt es inzwischen eine Vielzahl an Initiativen, die den Opfern des Nationalsozialismus durch Bewusstseinsbildung einen würdigen Platz in der offiziellen Geschichte erkämpfen. In den vergangenen Jahren wurden Denkmäler renoviert und neue errichtet, Ausstellungen kuratiert, zweisprachige Ortstafeln aufgestellt. Die andere Sprache gilt nicht mehr als schwerer Makel. Jedenfalls nicht mehr so schwer wie einst.
Vor drei, vier Jahren habe ich erfahren, dass wir Stiftsgymnasiasten, wenn wir ehrlich, nein furchtlos gewesen wären, zu viert aufgezeigt hätten, als sich der Lehrer vor dem schulfreien 10. Oktober nach der slowenischen oder jugoslawischen Muttersprache erkundigte. Wäre ich ehrlich, nein furchtlos, gewesen, hätte ich auch die Frage des Beamten auf der Führerscheinstelle der Bundespolizeidirektion von Klagenfurt wahrheitsgemäß beantwortet – und es stünde auf meinem Führerschein neben „Geburtsort“nicht „Klagenfurt“anstelle der inzwischen exjugoslawischen Stadt.
ANNA BAAR (geboren 1973 in Zagreb) ist Schriftstellerin. Sie lebt in Wien und Klagenfurt.