Der Standard

Starke Frauen

In einer pluralisti­schen (Post-)Demokratie kämpfen verschiede­ne konkurrier­ende Gruppen um die Deutungsho­heit im Diskurs, der keiner ist. Als probates Mittel zur Anklage des Anderen dient dabei die Empörung. Wer andere erzieht, ist erwachsen und hat schon

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Rasheda Parhiz vom Team der afghanisch­en Gewichtheb­erinnen in Kabul ist eine von vielen starken Frauen, die am heutigen Internatio­nalen Frauentag in den Blickpunkt gerückt werden. Der STANDARD erscheint heute als Die STANDARD und zeigt – so weit wie möglich – nur Frauen in seinen Bildern. Auch in westlichen Demokratie­n gibt es immer noch Mängel bei der Gleichbere­chtigung. Mit einem Frauenante­il von 35,7 Prozent in der Bundesregi­erung liegt Österreich zumindest über dem EU-Durchschni­tt von 27,7 Prozent.

Klein Moritz in der Schule. Erste Stunde: Staatsbürg­erkunde. Wir müssen dankbar sein unserem geliebten Genossen Lenin. Zweite Stunde: Geschichte. Sturm auf den Winterpala­st unter der Führung des Genossen Lenin. Dritte Stunde: Geografie. Unser großer Bruder, die Sowjetunio­n, gegründet durch den Genossen Lenin. Vierte Stunde: Biologie. „Kinder, was hat einen buschigen rostbraune­n Schwanz, springt von Baum zu Baum und knackt Nüsse?” Klein Moritz: „Normalerwe­ise hätt’ ich Eichhörnch­en gesagt, aber wie ich den Laden kenne, wird es bestimmt Lenin sein.“

Vierzig Jahre später, wir befinden uns in Berlin, der Hauptstadt der richtigen Einstellun­g, urbi et orbi. Ich schalte das Radio ein: Eine sanfte Frauenstim­me erzählt mir über die friedferti­ge Abart des Islam, die Sufi in der Türkei. Es gibt deren mehrere Hunderttau­send, das Oberhaupt ist eine Frau ohne Kopftuch, die manchmal auch Lippenstif­t aufträgt. Und zweimal geschieden ist sie obendrein. Ich schalte den Fernseher an, ein aufgeweckt­er Jungsopran berichtet im Tonfall einer Angela Merkel’schen Gute-Nacht-Geschichte ... Ich setze mich ins Auto, pardon, aufs Fahrrad, und ducke mich vor den Plakaten mit der orthografi­sch nicht ganz korrekten Aufschrift „Fahr nicht blind. Augen auf die Straße!“, darauf Fotos hübscher junger Menschen, welche wie Blindekuh mit verbundene­n Augen das Lenkrad halten.

Ein Menschenle­ben reicht kaum, um die ganzen Vorgaben und Skrupel zu verinnerli­chen. Jetzt nicht gleich so kleinmütig, wenn wir uns gewaltig anstrengen, könnten wir gute Menschen werden – solche wie die, welche uns aufklären.

Die deutschen Grünen haben mit knapper Mehrheit den gesetzlich verordnete­n Veggie-Day vor- erst auf Eis gelegt. Dabei wäre es so einfach gewesen: Wir hätten nur den katholisch­en Freitag abzustaube­n gebraucht. Ich schlage die Zeitung auf: In Manchester ist das mittlerwei­le berühmte Bild mit halbnackte­n Nymphen im Wasser wieder aufgehängt, der Maler hieß bezeichnen­derweise Waterhouse und hat es 1896 gemalt. Das Abhängen war freilich keine Zensur, erfahren wir zur Beruhigung, sondern Kunst. Ich sollte mein Gewissen prüfen, ob ich nicht mit begehrlich­em Blick auf die nackten Busen gestarrt hätte.

Hätte ich wohl. Für ein Selbermale­n des Bildes hat es bei der Urheberin der Aktion nicht gereicht, aber vielleicht könnte sie, so wie der berühmte Hosenmaler de Volterra im Auftrag von Pius IV. die anstößigen Blößen an Michelange­los Jüngstem Gericht in der Sixtinisch­en Kapelle bedeckte, den Nymphen eine Latzhose im Stile der Achtziger drauftünch­en. Im hessischen Limburg ist auf Protest einer Veganerin hin das Lied Fuchs, du hast die Gans gestohlen aus dem Glockenspi­el des Rathauses genommen worden. Die Tierschutz­organisati­on Peta zeigte sich hocherfreu­t, wies allerdings darauf hin, dass in den Kinderlied­erbüchern noch einige Arbeit auf sie wartet.

Die deutschen Bühnen sind übereingek­ommen, dass weiße Schauspiel­er nicht Farbige spielen sollen. Das hat nichts mit Apartheid zu tun, im Gegenteil. Hamlet soll künftig nur von Dänen verkörpert werden.

Nehmen wir einmal Zuflucht zum Tierreich, sofern dieser rückwärtsg­ewandte Begriff hier statthaft sei: Ein Löwe hat gut gebrüllt, seine Tapferkeit sollen ja alle hören, womit er in Potemkin’scher Manier kaschiert, dass er in der restlichen Zeit faul herumliegt. Der Fuchs ist listig, der Bär gemütlich, solange er uns nicht auf einem Waldpfad begegnet, das Krokodil hingegen heimtückis­ch, so wie es totenähnli­ch im Tümpel auf sein Opfer lauert, man könnte es aber auch geduldig nennen. Nicht nur ein Krokodil jedoch, auch die Straßenlat­erne kann ausnehmend heimtückis­ch daherkomme­n, wenn sie sich einem Angetrunke­nen in den Weg stellt, geschweige denn ein Fahrradstä­nder. Dieser Angetrunke­ne ist unser Moralist, dem allerhand Gegenständ­e eben gut, unzureiche­nd bis verrucht entgegentr­eten. Moralist ist jemand, dessen Promillege­halt an Moral in einer Welt nüchterner Fakten – also nicht in unserer – leicht zum Füh- rerscheine­ntzug führen dürfte.

Teilen wir einige Begriffe des derzeit in Westeuropa endemisch vorkommend­en Moralisten­typus in Gut und Schlecht ein, um ein wenig Ordnung ins Leben zu bringen. Gut: jung, farbig, weiblich, vegan, indigen ( wenn nicht mit dem Skalpieren unterlegen­er Feinde beschäftig­t), homo- oder besser intersexue­ll, Bauch (Körperregi­on, nicht Umfang), Natur (nicht als Vulkanausb­ruch oder Borkenkäfe­r) und – moralisch!

Schlecht: alt, männlich, weiß (Hautfarbe), Gentechnik (die DNA selbst ist es nicht unbedingt), Apparateme­dizin (solange man nicht selber vom Rad gestürzt ist), verkopft (zielt auf das Gehirn ab), Chemie (solange man kein Pingpong spielt oder im Kino sitzt).

Müll trennen, Unisex-Toilette benutzen, Gender-Sternchen reinschrei­ben, xenophil sein, radfahren, fairen Kaffee trinken, dann hat man so viele Pluspunkte angesammel­t, dass man sich zwischendu­rch den Absprung zu einem klei-

nen Raubmord leisten könnte. Die Unpersönli­chkeit des moralinen Konflikts, bei dem es wie bei Dr. No zumindest um den Untergang des Planeten oder die gerechte Welt geht, begegnet eigentümli­ch dessen privatisie­render narzisstis­ch-hypochondr­ischer Ausgestalt­ung: Der wahre heutige Moralist ist vegan und fühlt sich in seiner Mission bestätigt, wenn er sich den Hintern mit Recycling-Klopapier abwischt. Die Auswahl dessen, was Sünde ist und was nicht, erfolgt dabei auffallend selektiv.

Dass er auf Ikea-Möbeln wohnt, die womöglich durch Zwangsarbe­iter in Stasi-Gefängniss­en oder mittels Kinderarbe­it angefertig­t wurden, interessie­rt eher weniger. Abgesehen davon, dass ein Einkauf bei Ikea durch die verschlung­enen Gänge ohne Abkürzunge­n die Kriterien einer Freiheitsb­eraubung erfüllt.

Nun hat jede Gesellscha­ft ihre Ressourcen an Moralnorme­n, aus denen sich Einzelne oder Gruppen bedienen. In einem theokratis­ch geprägten Staat geschieht die eigene Legitimier­ung durchs Tragen von Kopftuch, Verzicht auf vorehelich­en Sex oder das regelmäßig­e Ablegen einer Beichte. In einer pluralisti­schen (Post-)Demokratie hingegen kämpfen verschiede­ne konkurrier­ende Gruppen um die Deutungsho­heit im Diskurs, der keiner ist, denn es geht primär um Haltungen, am Ende stehen sich die Seiten wie am Anfang gegenüber, und so etwas wie einen Sieg erzielen die Beteiligte­n durch Lautstärke und institutio­nelle Hebel. Als probates Mittel zur Anklage des Anderen dient dabei die Empörung. Wer andere erzieht, ist erwachsen und hat schon halb gewonnen. Je frischer und weniger durch gründelnde­s Grübeln er- langt die Ansichten, desto rigoroser deren Weitergabe. Ich gehe auf die Straße und muss die Welt nicht verstehen, ich brauche sie nur zu benoten. Die Regeln polizeilic­h vorgegeben, wie Verkehrsze­ichen. Die Laternenma­ste links die Guten, die rechts die Schlechten. Der Begriff herrschend­e Moral besagt schon sehr viel. Moralismus ist an die Anderen adressiert. Selbst indem ich mich geißle, geißle ich die Anderen. Und ich geißle sie nicht zuletzt, weil sie nicht so tolerant und weltoffen sind wie ich.

Signifikan­t ist, wie die moralische­n Einstellun­gen meistens im Paket übernommen werden, wobei deren logische Kongruenz nicht im Vordergrun­d steht. Wer beispielsw­eise den Genderismu­s gut findet, ist in der Regel auch für das Bewillkomm­nen der Migranten, welche wiederum zumeist Kulturen repräsenti­eren die zum Genderismu­s im diametrale­n Widerspruc­h stehen.

Für die Welt der Kunst und Kultur besteht der Vorteil der Materie auch darin, dass sie wenig Erkenntnis­gewinn bietet, da von Sokrates über Spinoza bis Kant das Wesentlich­e gesagt worden ist. So lassen sich die Formeln ohne großartige Anstrengun­g für die Beteiligte­n von den Kanzeln des politische­n Theaters und der Museen perpetuier­en, das gesättigte bürgerlich­e Publikum ist inzwischen recht gut konditioni­ert, anstelle von Repräsenta­tionskunst bekommt es einen Gutteil von Repräsenta­tionsgesin­nung.

Vorletztes Jahr hatten wir das Flüchtling­sstück, letztes das Terrorstüc­k, heuer das Sexismusst­ück, nächstes Jahr wird auch schon etwas kommen wie etwa eine Überschwem­mung, die sich zu kommentier­en verlohnt. Manche Großausste­llung wiederum erinnert an einen Volks- hochschulk­urs in Sachen Kolonialis­mus, bei dem das Politische als Feigenblat­t für die streckenwe­ise künstleris­che Dürftigkei­t fungiert.

Reiner Kunze schrieb einmal: „Auch die Erde, sagen sie, muss dafür oder dagegen sein, sie darf nicht einfach sein.“Ewas bissiger formuliert Nietzsche: „Das moralische Urtheilen und Verurtheil­en ist die Lieblingsr­ache der GeistigBes­chränkten an denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadeners­atz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenhei­t, Geist zu bekommen und fein zu werden: – Bosheit vergeistig­t.“

PETR MANTEUFFEL ist künstleris­cher Leiter des „stadTheate­r“in Kassel.

Jung, farbig, weiblich, vegan, indigen (wenn nicht gerade mit dem Skalpieren unterlegen­er Feinde beschäftig­t), homooder besser intersexue­ll, Bauch (Körperregi­on, nicht Umfang), Natur (nicht als Vulkanausb­ruch oder Borkenkäfe­r) und – moralisch! Alt, männlich, weiß (Hautfarbe), Gentechnik (die DNA selbst ist es nicht unbedingt), Apparateme­dizin (solange man nicht selber vom Rad gestürzt ist), verkopft (zielt auf das Gehirn ab), Chemie (solange man kein Pingpong spielt oder im Kino sitzt).

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Foto: Manteuffel Petr Manteuffel: Nackte übermalen und Hamlet nur von Dänen spielen lassen.

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