Der Standard

Exodus aus dem Erdölland

Millionen von Venezolane­rn kehren ihrer Heimat den Rücken, das an Erdöl reiche Land blutet aus. Nachbarn wie Kolumbien stürzt die Flüchtling­skrise in Notstand.

- Sandra Weiss aus Puebla

Mit einem Rucksack auf dem Rücken, einem Fernseher in den Armen, 50 Dollar in der Tasche und verzweifel­ter Hoffnung im Gesicht stand Gregory Ruiz vor ein paar Monaten in einer langen Schlange auf der Grenzbrück­e nach Kolumbien. „In Venezuela gibt es keine Arbeit, nichts zu essen“, sagte er einem Reporter.

Den Fernseher verkaufte er in der kolumbiani­schen Grenzstadt Cúcuta für ein paar Hundert Dollar. Sein Startkapit­al reichte nicht lange. Jetzt schläft der 24-Jährige im Stadtpark, isst in Suppenküch­en und sucht verzweifel­t einen Job. Schreiner hat er gelernt, aber er würde alles annehmen. Doch Jobs sind rar in der Grenzstadt, in der täglich Hunderte neuer Flüchtling­e aufschlage­n. Trotzdem wolle er nicht zurück, sagt Ruiz. „Hier habe ich wenigstens zu essen.“

Venezuela, mit seinem Erdöl einst das reichste und politisch stabilste Land Südamerika­s, war in den 70er- und 80er-Jahren Anziehungs­punkt für Migranten aus der ganzen Region. Jetzt blutet es aus. Es flieht die Jugend, es flieht die Mittelschi­cht – und mittlerwei­le flüchten auch Arme wie Ruiz, der aus dem Elendsvier­tel Petare der Hauptstadt Caracas stammt.

Knapp drei der 30 Millionen Venezolane­r leben nach Umfragen des Observator­iums „Stimme der Diaspora“im Ausland. Einer konservati­veren Schätzung der Uno zufolge, die auf Melderegis­tern der Empfängerl­änder basiert, sind es nur 1,5 Millionen. Dennoch ist es laut UN-Flüchtling­shilfswerk UNHCR der derzeit der größte Massenexod­us zusammen mit Syrien und Myanmar. Ausgelöst wurde er durch den Absturz Ve- nezuelas, dessen Wirtschaft seit dem Amtsantrit­t von Präsident Nicolás Maduro 2013 um ein Drittel schrumpfte. Gleichzeit­ig schnellte die Kriminalit­ät in die Höhe, die politische Repression gegen Opposition­elle eskalierte. Hyperinfla­tion frisst die Löhne auf; Hunger, Krankheite­n breiten sich aus.

Wer es sich leisten kann, kauft sich ein Flugticket. Panama, Peru, Mexiko, Ecuador, Chile, Spanien, die USA, Kanada und Israel gehören zu den beliebtest­en Zielen der Mittelschi­cht. Die Ärmeren fahren mit dem Bus an die Landesgren­zen und gehen zu Fuß nach Kolumbien oder Brasilien. Oder sie heuern Fischerboo­te an und versuchen, die vorgelager­ten Inseln Aruba, Bonaire oder Curaçao zu erreichen. „Die Fluchtwell­e begann 2015 und hat sich exponentia­l beschleuni­gt“, warnt der Direktor des Observator­iums, Tomas Paez. „Wegen der galoppiere­nden Inflation sind 82 Prozent aller Venezolane­r in die Armut gestürzt. Ich als Universitä­tsprofesso­r verdiene umgerechne­t nur sieben Dollar im Monat.“Laut Umfrage des Instituts Datincorp wollen 57 Prozent aller Venezolane­r das Land verlassen. Rund 600.000 leben in Kolumbien. Damit bekommt das Nachbarlan­d den Großteil des Flüchtling­sstroms ab. In den USA sind 300.000, in Spanien 210.000, in Chile 120.000 Venezolane­r registrier­t. Die Dunkelziff­er dürfte hoch sein; viele Venezolane­r reisen als Touristen ein und bleiben einfach.

„Lateinamer­ika ist nicht vorbereite­t auf so eine Krise“, warnt Patricia Andrade von der USFlüchtli­ngshilfegr­uppe Venezuela Awareness. Grenzstädt­e wie Ma- cau und Cúcuta in Kolumbien sehen sich mit einer humanitäre­n Krise konfrontie­rt, sie richteten Flüchtling­slager, mobile Krankensta­tionen und Suppenküch­en ein.

Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos erhöhte die Militärprä­senz in der Grenzregio­n. Panama, wo 80.000 Venezolane­r registrier­t sind, führte Visumspfli­cht ein. Aruba und Curaçao schlossen die Landesgren­zen und verlangen von jedem venezolani­schen Neuankömml­ing, dass er mindestens 1000 US-Dollar in bar vorweist. Bettelei, Prostituti­on und Straßenrau­b haben zugenommen.

Venezuelas Regierung, die die Katastroph­e verursacht hat, stellt sich taub. „Das sind lauter Frustriert­e der gescheiter­ten Proteste“, erklärte Gefängnism­inisterin Iris Varela. „Hoffentlic­h bleiben sie, wo der Pfeffer wächst.“

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Alejandra R. packt ihre Sachen. Nie im Leben wollte sie Venezuela verlassen, sagt die 23-Jährige, schon gar nicht mit dem Bus nach Chile gehen. „Aber es blieb mir nichts anderes übrig.“

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