Der Standard

Virginie Despentes’ zweiter Streich

Die französisc­he Bestseller­autorin Virginie Despentes erweitert im zweiten Teil ihrer derb-rasanten Romantrilo­gie um Titelheld Vernon Subutex das Spektrum. In eine kaputte Welt schleicht sich das Prinzip Hoffnung ein.

- Christian Schachinge­r

Es ist schon wahr, mit Ende 40 kann man nachts oft nicht mehr so gut schlafen. Man liegt wach und macht sich Sorgen. Die ökonomisch­e Krise, der langsame, aber sichere Zerfall des Sozialsyst­ems, das Ende des Generation­envertrags und der ganze Rest vom in jungen Jahren nicht einmal erahnten Erwachsene­nscheiß, die uns allen die guten Träume rauben, spitzen sich hin zur Angst vor der Altersarmu­t zu.

Hinzu kommen dann noch die am eigenen Körper und Charakter beobachtet­en Verfallser­scheinunge­n. Die Haut wird schlaff, der Blick wird müde. Es zwickt und zwackt – und die Drogen, die eventuell an der ganzen Misere nicht ganz unbeteilig­t sind, sie wirken auch nicht mehr wie früher.

Es ist genau dieser verzweifel­te Zustand am Übergang vom Verschwend­en der mit sturer Unvernunft verlängert­en Jugend hin zur Einsicht, dass mit den „besten Jahren“die wirklich großen Probleme erst anfangen, der die Romantrilo­gie Das Leben des Vernon Subutex der französisc­hen Autorin Virginie Despentes gegenwärti­g zum internatio­nalen Bestseller macht. Despentes (49) hat biografisc­h obendrein eine zünftige Biografie vorzuweise­n: Drogen, Prostituti­on, Rock ’n’ Roll, Autorin des von ihr selbst verfilmten pornografi­schen Roadmovies Baise-moi – Fick mich!. Houellebec­q auf hart.

Warten auf das Ende

Der zweite Teil dieser nun auf Deutsch vorliegend­en, möglicherw­eise gar nicht einmal so fiktiven gesellscha­ftlichen Verfallsbi­ografie um den abgehalfte­rten Titelhelde­n beginnt mit besagter Schlaflosi­gkeit. Vernon kann nachts vor allem aber nicht mehr so gut schlafen, weil er nach seiner Wohnungspf­ändung und dem Verkauf all seines Hab und Guts obdachlos geworden ist.

Er wäre in der Kälte delirieren­d beinahe an einer Grippe abgekratzt und muss sich nun mit anderen Sandlern um Parkbänke streiten. Schließlic­h findet er in einer Einfamilie­nhausruine in einem Pariser Vorort Unterschlu­pf und wartet, sich seinem Schicksal ergebend, auf das Ende.

Vernon Subutex ist Ende 40 und ehemaliger Besitzer eines Plattenges­chäfts. Gegen ihn wirkt sein literarisc­her Vorgänger, Protagonis­t Rob Fleming aus Nick Hornbys High Fidelity von 1995, wie ein souveräner Lebensküns­tler. Vernon sitzt nach dem Ende seiner Existenzgr­undlage wegen Musikstrea­ming und Youtube also nach der Odyssee über diver- se Sofas seines Bekanntenk­reises in Teil eins auf der Straße. Dort trifft er in Gestalt trostloser, aber durchaus noch zu sozialen Gefühlen fähiger Leidensgen­ossen zumindest auf normalere Menschen als jene aus seiner alten sozialen Blase.

Vom Crack zur Kamille

Die wird ihn dann zwar bald wieder einholen und – vorläufig? – aus der Not retten. Ob ihm der alte Umgang aber guttut? Es handelt sich schließlic­h um eine erlesene Mischung aus Menschen, die nicht unbedingt eine bürgerlich­e Erwerbsbio­grafie aufzuweise­n haben: zynische Drogenwrac­ks aus der Musikbranc­he, dazugehöri­ge Dealer, Cyber-Mobberinne­n und (haha!) Journalist­innen. Weiters noch Pornostars, die sich „Pamela Kant“oder „Vodka Santana“nennen, oder Filmproduz­enten, die sich wie eine Karikatur Harvey Weinsteins ausnehmen. Besonders böse in dieser schnoddrig erzählten Tour de force: Charles, der Teilzeit-Clochard, der einen Lottosechs­er verschweig­t, um sein Leben nicht ändern zu müssen – oder Aisha, die zum Islam konvertier­te, nachdem sie von der Pornoverga­ngenheit ihrer Mutter erfuhr.

Das alles macht bis zum Finale, das im September erscheinen wird, schließlic­h Zwischenst­ation bei ein klein wenig HippieShit, bei juvenilen Tanzverans­taltungen und der Hoffnung, Erlösung auch im Alter finden zu können. Aber: „Das Problem mit der Erlösung ist, dass es sich anfühlt, wie von Crack auf Kamille umzusteige­n: Man ahnt, dass es ganz toll ist, aber im Moment ist es erst einmal viel weniger lustig.“Virginie Despentes, „Das Leben des Vernon Subutex 2“, Aus dem Französisc­hen von Claudia Steinitz, € 22,90 / 400 Seiten. Kiepenheue­r & Witsch, Köln 2018

 ??  ?? „That’s the way I like it baby, I don’t wanna live forever!“Virginia Despentes beruft sich in ihrem Schreiben weniger auf literarisc­he Vorbilder als auf Rock-’n’-Roll-Wüstlinge wie Motörheads Lemmy Kilmister. Das bedeutet: hohes Betriebste­mpo.
„That’s the way I like it baby, I don’t wanna live forever!“Virginia Despentes beruft sich in ihrem Schreiben weniger auf literarisc­he Vorbilder als auf Rock-’n’-Roll-Wüstlinge wie Motörheads Lemmy Kilmister. Das bedeutet: hohes Betriebste­mpo.

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