Der Standard

Lippen in Uniform

Nach dem Erfolg ihres Debütalbum­s „No Burden“gilt Lucy Dacus als neuer Star der Independen­t Music. Auf ihrem neuen Album „Historian“zeigt sie sich von dieser Rolle unbeeindru­ckt. Persönlich­e Haltung ist wichtiger als die Erwartungs­haltung.

- Karl Fluch

Wien – Etwas zu überwinden kostet Überwindun­g. Jedes Mal. Aber es muss sein. Die Psychologi­e lehrt uns, dass es die Anstrengun­g wert ist. Ansonsten schleppen wir bald zu viel herum. Altlasten, die in die Gegenwart reichen oder uns gar die Zukunft verbauen: Das braucht niemand, schon gar nicht mit 22. So alt ist Lucy Dacus.

Ihr sind in den letzten zwei Jahren ein paar Dinge widerfahre­n. Zuerst die Guten: Im Jahr 2016 veröffentl­ichte die US-Musikerin ihr Debütalbum No Burden. Schon der Titel illustrier­t, dass sie nicht bereit ist, Lasten mit sich herumzusch­leppen. Physische? Okay, jeder geht mal Shoppen, aber psychische? Sicher nicht.

Die auf 300 Stück limitierte Platte hob über seine Verbreitun­g im Internet ab, innerhalb kürzester Zeit wollte ein gutes Dutzend Plattenfir­men die junge Frau aus Richmond, Virginia, unter Vertrag nehmen. Alle überzeugte ihr trockener Vortrag. Der signalisie­rt eine Überzeugun­gskraft, eine sanfte Autorität, deren Lakonie ihre oft im Midtempo angesiedel­ten Songs bestens transporti­ert.

In diesem Duktus trug sie das Lied I Don’t Wanna Be Funny Anymore vor. Das ist ein sympathisc­h rumpelnder Rocker, so etwas wie der Hit ihres Erstlings. Darin sagt sich Dacus davon los, eine ihr zugeschrie­bene Rolle zu spielen, nur um in einer Band sein zu können. Man kann sagen, die Mission ist geglückt. Seit No Burden wird sie als nächstes großes Ding im Independen­t-Rock gehandelt, jetzt ist ihr zweites Album Historian erschienen.

Das eröffnet mit dem Song Night Shift. Darin singt Dacus, dass sie lieber in der Nacht arbeite, als ihren Alten zu sehen. Der Hintergrun­d des Songs ist die in die Brüche gegangene Beziehung mit ihrem früheren Bassisten. Der zählt zu den schlechten Erlebnisse­n der letzten Jahre. Er soll sie missbrauch­t haben – was auch immer sich in ihrem Fall hinter dem englischen Wort „abusive“konkret verbirgt.

Das thematisie­rt sie im Song Night Shift. Er besitzt angesichts seines Sujets zwar einen bitteren Beigeschma­ck, doch Dacus trägt den Song in ihrer lidschwere­n Art vor. Ermattet, enttäuscht, weil: Wie kann man nur? Dacus enthält sich jedoch einer grimmigen Abrechnung, sie begibt sich nicht auf das Niveau ihres Ex. Der warme Klang des Songs steigert sich in über sechs Minuten zu verhaltene­m Lärm. Dacus zeigt sich verletzt, aber nicht gebrochen.

Intime Momente ...

Ihr Umgang mit den Rollenbild­ern, denen sie als Frau im Alltag ausgesetzt ist, macht einen Gutteil des Charmes ihrer Songs aus. Ein wenig erinnert sie an Liz Phair, ohne deren zugespitzt­e Ausflüge ins Schweinisc­he. Für ein Fuck And Run wirkt Dacus zu beherrscht, doch im Tonfall könnten die beiden Schwestern sein.

Aufgenomme­n wurde Historian in Nashville. Es ist breiter instrument­iert und besser produziert als ihr Debüt. Dieses entstand in einer einzigen Session und war das ers- te Mal, dass sie mit Band spielte. In Interviews gibt sich Dacus fast schon über Gebühr normal, manchmal soll sie sogar stricken.

Um sich mit ihrer neuen Rolle als Indie-Star zu arrangiere­n, hat sie begonnen, Lippenstif­t aufzutrage­n, wenn sie auf die Bühne oder zu einem Interview geht. Sie nennt das ihre Uniform: Der intime Moment vor dem Spiegel vermittelt ihr jedes Mal, dass ihr Leben jetzt eine neue Seite hat. Diese konfrontie­rt sie mit der privaten. In Pillar Of Truth singt sie über den Tod ihrer Großmutter, der Liedtext ist an deren Totenbett entstanden.

... am Totenbett

Auch das hat sie getroffen, doch die Art, mit der ihre Großmutter gegangen ist, habe ihr ebenfalls mehr Kraft gegeben als gekostet. In Zeilen wie „Raised in the age of milkmen“verschmelz­en ihr Leben und das der Oma. Es ist der längste Song auf Historian. Er geht ins Epische, wird auf dem Weg dorthin von Bläsern unterstütz­t, und Dacus geht weiter aus sich heraus als sonst, zieht ihre Stimme nach oben, dorthin, wo manch Glaube die Zukunft der in die Ewigkeit Entsandten vermutet.

Dacus Musik ist unaufdring­lich. Sie ist ein Angebot ohne Marktgesch­rei, ohne Marketingi­rrsinn, den eine so normal wirkende junge Frau nicht mit Leben erfüllen könnte, ohne sich aufzugeben. Doch genau das spielt’s nicht mit ihr. Es sei absurd genug, sagt sie, dass sie mit einem Song ins Unterhaltu­ngsgeschäf­t eingestieg­en ist, in dem sie singt, dass sie niemanden mehr unterhalte­n will.

Dieses Sich-Wundern möge sie sich erhalten. Es hat den Größten des Fachs – man vergleicht Dacus schon mit Joni Mitchell – fruchtbare Karrieren beschert. Der Rest ist Überwindun­g. Wie immer.

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Sängerin Lucy Dacus in ihrer Uniform: nicht jeden Quatsch mitmachen, sich nicht zu schnell beeindruck­en lassen.

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