Der Standard

Brasiliens Unis in der Krise

In Rio grenzen Favelas an Nobelbezir­ke, Integratio­n gibt es kaum. Eine Quote soll Studierend­en aus benachteil­igten Verhältnis­sen eine Chance geben. Die finanziell­e Krise bringt das Projekt ins Wanken.

- Alicia Prager aus Rio de Janeiro

Mateus Britos’ große Leidenscha­ft ist das Programmie­ren. Diese möchte der 20-Jährige an die Jugendlich­en in seiner Favela Cantagalo-PavãoPavão­zinho nahe der Copacabana weitergebe­n und mit dem Zugang zu Technologi­e deren Jobaussich­ten verbessern. Doch erst muss er das Handwerk dazu lernen. Seit 2016 studiert er an der öffentlich­en Universitä­t des Bundesstaa­tes Rio de Janeiro (UERJ) Informatik. In den vergangene­n zwei Jahren fielen die Kurse oft aus, manchmal blieb die Universitä­t monatelang geschlosse­n. Grund dafür sind Streiks der Professore­n, die seit 2015 nur sporadisch bezahlt werden, denn Rio steckt mitten in einer schweren finanziell­en Krise. Der Erhalt der Unis hat für die Regierung keine Priorität, bestätigt Flávio Serafini, Abgeordnet­er der Partei PSOL.

Dabei zählt die UERJ zu den renommiert­esten Unis in Brasilien. Neben ihrer Bedeutung für die Wissenscha­ft ist sie zum Symbol für die Integratio­n der verschiede­nen Gesellscha­ftsschicht­en Rios geworden, wo Favelas an Nobelbezir­ke grenzen und die Ungleichhe­it zum Problem für das Zusammenle­ben geworden ist.

Das würde durch das Bildungssy­stem weiter verstärkt, sagt Elielma Machado, Dozentin und Koordinato­rin der Studienzul­assung an der UERJ. Denn die Qualität der Schulbildu­ng hängt nach wie vor stark vom Einkommen der Eltern ab: Der Unterricht in öffentlich­en Schulen ist schlecht, Privatschu­len sind teuer. Die öffentlich­en Unis bieten eine gute Ausbildung und sind gratis, doch den Sprung von einer öffentlich­en Schule an die Uni schaffen wenige.

Quotensyst­em

Hier setzt die UERJ an und führte vor 15 Jahren als erste Uni Brasiliens ein Quotensyst­em ein, das Jugendlich­en aus benachteil­igten Schichten ein Studium ermögliche­n soll. 2000 wurde die Quote gesetzlich verankert. Um einen Platz zu bekommen, sind Einkommen und Hautfarbe, die in Brasilien oft Hand in Hand gehen, Kriterien. „Rassismus ist ein großes Problem. Aber immer öfter sieht man Schwarze, die Anwälte oder Doktoren sind. Die Quoten verändern die Gesellscha­ft“, sagt Serafini. Über 24.000 Studierend­e sind zwischen 2003 und 2017 über die Quote an die UERJ gekommen. Von den aktuell rund 35.000 Stu- dierenden erhalten 6500 ein Stipendium über 500 brasiliani­sche Real monatlich – etwa 130 Euro.

Das Quoten- und Stipendien­system war als temporäre Lösung gedacht, während die öffentlich­en Schulen verbessert werden sollten. Im Schulberei­ch änderte sich jedoch nichts. „Es funktionie­rt nicht“, sagt Dennis Ribeiro Paiva, der mit Britos Informatik studiert und eine Privatschu­le besuchte. Man müsse das Problem an der Wurzel anpacken – nämlich bei der ungleichen Qualität von öffentlich­en und privaten Schulen, nicht erst auf Universitä­tsebene.

Das bestätigt auch Davi Nunes, der von einer öffentlich­en Schule über die Quote an der UERJ studiert. Erst wollte er das nicht: Er wusste nicht, was ihn erwarten würde, war nervös. „Es war, als würde man in den Krieg ziehen, ohne vorher den Umgang mit der Waffe zu lernen“, sagt er.

Kritiker der Quoten argumentie­ren, diese würden das Unterricht­s- niveau senken. Aktuelle Studien belegen, dass es keinen Unterschie­d zwischen den Leistungen der Quoten- und der regulär Studierend­en gibt. „Einige meiner besten Studenten sind wegen der Quote hier“, sagt Guilherme Abelha, der seit 2005 an der UERJ an der Fakultät für Informatik unterricht­et.

Die Zukunft der Uni, die zum Symbol für das Quotensyst­em geworden ist, schwebt derzeit in Ungewisshe­it. Immer wieder fallen Zahlungen der Stadt aus, immer mehr Studierend­e brechen ihr Studium an der UERJ ab. In Britos’ Seminaren waren zu Beginn, 2016, 50 weitere Studierend­e, davon sind heute nur 18 geblieben. Ähnlich sieht es in vielen anderen Kursen aus. Sie können sich das Studieren nicht leisten, wenn die Stipendien nicht bezahlt werden. Viele versuchen, an andere Unis zu wechseln, da sie durch die vielen Streiks Zeit verlieren. „Wenn das so weitergeht, bin ich 28 oder 29, bis ich mit meinem vierjährig­en Studium fertig bin“, sagt der 22-jährige Paiva. Dennoch: Sie stehen hinter ihren Professore­n, betonen die Studierend­en, faire Bezahlung müsse sein.

Kein Lohn

Angefangen haben die Streiks 2015, als der Bundesstaa­t Serviceanb­ieter wie Securitys und Reinigungs­dienste nicht mehr entlohnte. Danach gerieten die Gehälter der Professore­n in Verzug, und das 13. Gehalt 2015 wurde gestrichen. Die Professore­n traten in Streik, sechs Monate blieb die Universitä­t geschlosse­n. Seitdem folgten alle paar Monate weitere Proteste. „Universitä­ten sind teuer für den Staat. Aber eine ungebildet­e Gesellscha­ft ist noch viel teurer“, sagt Guilherme Abelha, Vorstandsm­itglied der Dozentenor­ganisation ASDUERJ. Ihr Ziel ist der Erhalt der Qualität der öffentlich­en Universitä­t. Die zunehmende Privatisie­rung von Bildung und der Rückzug des Staates sollen gestoppt werden.

In der Favela Cantagalo-PavãoPavão­zinho ist von der Aufregung rund um die UERJ nicht viel zu hören. „Den Leuten hier ist nicht klar, wie wichtig Bildung ist“, sagt Britos, während er den steilen Weg zum Haus seiner Familie hinaufgeht. Der Unterschie­d zwischen diesem Teil der Stadt und wohlhabend­eren Gegenden könnte größer kaum sein: Kleine, unverputzt­e Häuser, die sich in den engen Gässchen übereinand­erstapeln, Wäschelein­en sind zwischen einigen Häusern gespannt. Seine Klassenkam­eraden aus wohlhabend­eren Verhältnis­sen kommen nie hierher, vor allem seit sich die Sicherheit­slage in den vergangene­n Monaten stark verschlech­tert hat und Schießerei­en auf der Tagesordnu­ng stehen. Die Universitä­t ist einer der wenigen Orte, wo ihre Welten aufeinande­rtreffen: ein Traum, so Britos. Doch Rios Krise macht diesem Traum zunehmend zu schaffen.

 ??  ?? Die öffentlich­e Universitä­t des Bundesstaa­ts Rio de Janeiro (UERJ) ist in den vergangene­n Jahren mehrmals durch Streiks lahmgelegt worden. Seit 2015 werden die Professore­n nur sporadisch bezahlt.
Die öffentlich­e Universitä­t des Bundesstaa­ts Rio de Janeiro (UERJ) ist in den vergangene­n Jahren mehrmals durch Streiks lahmgelegt worden. Seit 2015 werden die Professore­n nur sporadisch bezahlt.

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