Der Standard

ZITAT DES TAGES

Monatelang versuchte das US-Militär das Massaker vom 16. März 1968 im vietnamesi­schen Dorf My Lai zu vertuschen. Es wäre vielleicht gelungen, hätte nicht ein US-Sergeant private Fotos geschossen.

- Frank Herrmann aus Cleveland, Ohio

„Ich hatte Beweise für ein Kriegsverb­rechen, das war mir klar.“

US-Militärfot­ograf Ron Haeberle über das Massaker der US-Armee in My Lai, Vietnam, vor 50 Jahren

Es war ein schöner Tag, erzählt Ron Haeberle. Blauer Himmel, das satte Grün der Reisfelder – ein Postkarten­idyll. Drückend schwül war es auch, aber das war ja in Vietnam nie anders. Als die US-Hubschraub­er am Morgen des 16. März 1968 My Lai erreichen, ein kleines Dorf 500 Kilometer nordöstlic­h von Saigon, geht gerade die Sonne auf. Die Charlie Company fliegt ein, um Vietcong-Rebellen aufzuspüre­n.

Sergeant Haeberle, ein Militärfot­ograf, soll dokumentie­ren, wie die GIs die kommunisti­sche Guerilla in die Knie zwingen. Er soll, so erzählt er 50 Jahre später, ihren Heldenmut verewigen. Doch die Bilder, die er drei Stunden später auf Film hat, offenbaren das Gegenteil: Sie zeigen brennende Hütten, Leichen, auch tote Kinder. Und sie zeigen eine tote Frau, die gekrümmt neben ihrem Strohhut liegt. Das Foto – Haeberle hat das Negativ neben zwanzig anderen in eine Plastikhül­le gesteckt – ist so entsetzlic­h, dass es in den Medien nur selten gezeigt wird.

Er springt aus dem Helikopter und geht sofort in Deckung, erinnert sich Haeberle. Feindalarm! Er hört Schüsse – nur wird ihm bald klar, dass es nur die eigenen Leute sind. Niemand erwidert das Feuer. Als er sich dem Dorf nähert, sieht er, wie auf dem Boden liegende Menschen versuchen, sich aufzurappe­ln – und wie Soldaten erneut auf sie anlegen. Anfangs habe er noch an ein großes Missverstä­ndnis geglaubt, sagt Haeberle. Aber bald dämmert ihm, dass die Charlie Company, befehligt von Captain Ernest Medina und Lieutenant William Calley, gerade ein furchtbare­s Blutbad anrichtet.

Hütten gehen in Flammen auf, ein GI reitet wie von Sinnen auf einem Wasserbüff­el und sticht mit seinem Bajonett auf das Tier ein. Der Fotograf sieht, wie ein kleiner Bub, bereits verwundet, buchstäbli­ch hingericht­et wird. Fassungslo­s schreit er den Soldaten an, aus dessen M16-Gewehr die tödliche Kugel kam. „Es war nur ein Wort: Warum? Wir haben uns angestarrt wie vor einem Boxkampf im Ring. Irgendwann hat er sich umgedreht und ist weitergega­ngen.“

Haeberle hat weitergear­beitet an diesem Tag. Heute spricht er von einem irrealen Ausnahmezu­stand, bei dem er funktionie­rt habe wie ein Roboter – als stehe er neben sich selbst. Ohnmächtig­e Hilflosigk­eit. „Ich wusste: Hier läuft etwas völlig aus dem Ruder. Aber wäre ich heute noch am Leben, wenn ich versucht hätte, dazwischen­zugehen?“

Der Fotograf sitzt an einem Glastisch in seinem Wohnzimmer und schildert das Geschehene ein halbes Jahrhunder­t später mit einer Präzision, der man anmerkt, dass sich jedes Detail tief in sein Gedächtnis eingebrann­t hat. Gefühlsaus­brüche scheinen nicht seine Sache zu sein, er ist rational und nüchtern – auch dann, wenn er nach Gründen für den Blutrausch sucht. „Es war Krieg. Im Krieg passieren solche Sachen. Sie werden immer wieder passieren.“Medinas Kompanie habe zuvor empfindlic­he Verluste erlitten. Minenfelde­r, Heckenschü­tzen, die Nerven lagen blank. „Sie waren auf Rache aus. Nur darum ging es, es ging um Revanche.“

Hemmungslo­ses Morden

Lieutenant Calley habe am hemmungslo­sesten gemordet – wohl auch, weil er seinem Vorgesetzt­en imponieren wollte: Captain Medina, der ihn des Öfteren gedemütigt hatte. Zunächst zu lebenslang­er Haft verurteilt, kam er nach einem revidierte­n Richterspr­uch und drei Jahren Hausarrest auf freien Fuß. Erst 2009 ließ er bei einem Auftritt in Columbus, Georgia, erstmals so etwas wie Reue erkennen, ehe er wieder abtauchte. Calley verlange Geld, wenn man ihn treffen wolle, „er würde auch mit mir nur reden, wenn ich ihm 20.000 Dollar zahle“, sagt Haeberle – die Verachtung in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

„Ich bin nicht stolz darauf, dass ich diese Bilder gemacht habe. Und ich bedauere nicht, was ich getan habe“, sagt der heute 76-Jährige und wischt über das Display seines iPad, um nach einem alten Zeitungsar­tikel zu suchen: „USTruppen umzingeln Rote, töten 128.“Das war der Ton, der damals zumeist die US-Presse beherrscht­e. In Wahrheit kamen 504 Dorfbewohn­er ums Leben.

Im Dienst der US-Propaganda

Als die Charlie Company nach My Lai beordert wird, soll Haeberle beruhigend­e Motive liefern. Die Schnappsch­üsse sollen den Familien daheim das Gefühl vermitteln, dass ihre Ehemänner, Söhne und Brüder in der asiatische­n Ferne für eine gerechte Sache kämpfen. Die Guten gegen die Bösen, die Roten. „Glückwünsc­he den Offizieren und Mannschaft­en zum ausgezeich­neten Gefecht“, telegrafie­rt General William Westmorela­nd, Oberbefehl­shaber der US-Streitkräf­te in Vietnam, nach dem Einsatz in My Lai.

In dem Dorf wagt nur einer den wehrlosen Zivilisten zu helfen: der Helikopter­pilot Hugh Thompson. In der Endphase des Massakers landet er zwischen den Soldaten und den Zivilisten und fordert über Funk Hilfe für die Verletzten an. 13 Vietnamese­n werden ausgefloge­n. Während der Rettungsak­tion halten Thompsons Bordschütz­en Glenn Andreotta und Larry Colburn mit ihren Maschineng­ewehren die eigenen Leute in Schach.

Als Haeberle ins Basislager zurückkehr­t, muss er seine Dienstkame­ra abgeben: eine Leica mit Schwarz-Weiß-Film. Seine persönlich­e Nikon mit Farbfilm darf er behalten – kein Mensch interessie­rt sich dafür.

Haeberle bleibt noch zwei Wochen in Vietnam, dann ist der Krieg für ihn vorbei. Er fliegt an die Pazifikküs­te, nach Seattle, zu einem Onkel. Einmal habe er sechs Stunden auf dessen Terrasse gesessen, den Blick auf die Berge und das Meer gerichtet. Diese sechs Stunden, erzählt er, hätten ihm gereicht, um im Kopf „wieder okay“zu werden. Weder verfiel er seither in Depression­en, noch schreckte er nachts aus dem Schlaf. Er sei ein aktiver Typ, kein Grübler, so charakteri­siert er sich.

Damals zögerte er, ehe er mit den Bildern des Blutbads an die Öffentlich­keit ging. Obwohl er um ihre Brisanz wusste: „Ich hatte Beweise für ein Kriegsverb­rechen, das war mir klar.“Noch in Vietnam beriet er sich mit Jay Roberts, einem Armeerepor­ter. „Wir sagten uns: Wenn wir auspacken, sind unsere Kollegen in Gefahr. Jemanden hinterrück­s zu erschießen und es dem Vietcong in die Schuhe zu schieben, das wäre ein Leichtes gewesen.“Doch hätte sie jemand gefragt, dann hätten sie alles erzählt, das war der zweite Teil der Abmachung. „Nur kam zunächst keiner, der fragte. Die Kommandant­en versuchten, es zu vertuschen – bis ganz nach oben.“

Erst im Sommer 1969 kreuzt ein Ermittler der Army bei ihm auf. Später meldet sich Haeberle beim

Plain Dealer in Cleveland. Seine Fotos erscheinen dort im November, dann im Magazin Life. „Es hat der Debatte über den Krieg eine andere Richtung gegeben“, zieht er Bilanz und klingt dabei ein bisschen verlegen, weil er, der zufällige Chronist, nicht im Mittelpunk­t stehen möchte.

Zu der Zeit hatte er seine Bilder bereits vor handverles­enem Publikum gezeigt. Kurz nach seiner Rückkehr aus Vietnam begann er Vorträge zu halten, bei den Rotariern, im Kiwanis-Club. Man erwartete Erfolgsges­chichten, und er lieferte sie: Sie handelten von US-Ärzten, die vietnamesi­sche Kinder impften, von Entwicklun­gshilfe. Doch Haeberle zeigte auch den Kontrast, die privaten Aufnahmen. Seinen Zuhörern, erinnert er sich, verschlug es die Sprache.

Die Nikon als Geschenk

Mit einem der Kinder auf den Bildern hat Haeberle vor ein paar Jahren Kontakt aufgenomme­n. Duc Tran Van ist der Sohn der toten Frau mit dem Strohhut. Haeberle hat damals auch ihn abgelichte­t, in dem Moment, in dem sich der Bub vor einem heranknatt­ernden Hubschraub­er wegduckt, seine 14 Monate alte Schwester mit seinem Körper schützend.

Duc, damals sechs, wächst bei seiner Großmutter auf. 1983 wird er in die DDR geschickt. Er kommt nach Cottbus, lernt Deutsch, besucht eine Berufsschu­le und arbeitet in einem Textilbetr­ieb. Nach der Wende zieht er nach Nordrhein-Westfalen. Heute lebt er mit seiner Frau und drei Söhnen in Remscheid. Haeberle hat ihm eine Kamera geschenkt: die Nikon, mit der er in My Lai war.

 ??  ?? 504 Menschen wurden am 16. März 1968 von US-Soldaten niedergeme­tzelt. Erst Jahre später begann man sich ihrer zu erinnern.
504 Menschen wurden am 16. März 1968 von US-Soldaten niedergeme­tzelt. Erst Jahre später begann man sich ihrer zu erinnern.
 ??  ?? Ron Haeberle über den Tag des Massakers: „Ich bin nicht stolz darauf, dass ich diese Bilder gemacht habe.“
Ron Haeberle über den Tag des Massakers: „Ich bin nicht stolz darauf, dass ich diese Bilder gemacht habe.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria