Der Standard

Die Kurden fühlen sich erneut im Stich gelassen

Vor dreißig Jahren griff die irakische Armee die kurdische Stadt Halabja mit Giftgas an. Das Gedenken fällt mit der türkischen Umzingelun­g der Kurdenenkl­ave Afrin zusammen. Die Kurden klagen über internatio­nale Gleichgült­igkeit.

- Gudrun Harrer

Sulaymaniy­a/Wien – Es ist dreißig Jahre her, dass der Tod aus der Luft in die kurdische Stadt Halabja im Nordirak kam: Bis zu 5000 Tote und 10.000 Verletzte mit dauerhafte­n Gesundheit­sschäden forderte der Giftgasang­riff der irakischen Luftwaffe. Die irakischen C-Waffen kamen am 16. März 1988 nicht erstmalig zum Einsatz; aber diesmal waren die Opfer nicht iranische Soldaten – der Irak-IranKrieg tobte seit 1980 –, sondern Saddam Husseins „eigenes Volk“, das allerdings schon zuvor in der genozidale­n Anfal-Kampagne verfolgt worden war.

Halabja, 240 Kilometer nordöstlic­h von Bagdad und 14 Kilometer von der iranischen Grenze entfernt, war am Tag zuvor von iranischen Truppen eingenomme­n worden. Aber die Opfer des Angriffs waren kurdische Zivilisten, die Mehrzahl davon Frauen und Kinder. Das führte zuletzt doch zur Aufmerksam­keit der Öffentlich­keit – auch wenn der Westen, der in diesem Krieg den Irak unterstütz­te, zuerst kein Interesse hatte, die Sache an die große Glocke zu hängen. US-Offizielle schienen anfangs sogar die irakische Behauptung zu unterstütz­en, es habe sich um einen iranischen Angriff gehandelt. Auch die große Chemiewaff­enkonferen­z in Paris im Jänner 1989 hütete sich noch davor, den Irak an den Pranger zu stellen.

London und Afrin

Für Kurden weltweit sind die aktuellen Geschehnis­se im syrischen Afrin, wo die türkische Armee die eingekesse­lten Kurden angreift, umso bitterer. Wieder einmal, so die Klagen, schaut die Welt zu, wenn Kurden umgebracht werden. Der 30. HalabjaGed­enktag fällt aber auch mit der Aufregung über den Giftgasans­chlag auf einen russischen Exspion und seine Tochter in London zusammen (siehe Seite 4) – der daran erinnert, dass in den Laboren der Industries­taaten Substanzen hergestell­t werden, die die „klassische­n“Giftgase weit in den Schatten stellen.

Für die Menschen in Halabja ist die Geschichte noch immer Gegenwart. Am Dienstag brachte ein US-Rechtsanwa­ltsbüro im Namen von 1380 Personen am Zivilgeric­ht in Halabja eine Millionenk­lage gegen etliche deutsche Firmen ein, die dem Irak Bestandtei­le für seine C-Waffen-Programme geliefert hatten. Beobachter sind skeptisch, was die Erfolgsaus­sichten betrifft.

Zerstörtes Mahnmal

In Halabja erinnert eine neue Gedenkstät­te an die Ereignisse vor dreißig Jahren: Das Memorial ist 2003, unmittelba­r nach dem Einmarsch der USA im Irak, errichtet, aber bereits 2006 bei kurdischen Protesten gegen Korruption und Missmanage­ment schwer beschädigt worden. Dabei wurde auch ein wertvolles Archiv teilweise zerstört. Halabja bleibt ein schwierige­r Ort, die Menschen fühlen sich marginalis­iert, auch von ihrer eigenen kurdischen Führung. Immer wieder kommt es zu Demonstrat­ionen, die jüngsten fanden im Dezember 2017 statt.

Das Gefühl, vergessen zu sein, trug zweifellos dazu bei, dass in den Jahren vor 2003 ausgerechn­et die kurdische Provinz Halabja – also ein Gebiet außerhalb des von Saddam Hussein kontrollie­rten Territoriu­ms – der einzige Ort im Irak war, an dem eine Al-Kaida nahestehen­de extremisti­sche kurdische Islamisten­gruppe Fuß fassen konnte. Die Jund al-Islam („Soldaten des Islam“) kontrollie­rten ein kleines Gebiet, in dem sie ihre eigenen radikal-islamische­n Regeln durchsetzt­en: ein Vorläufer des „Islamische­n Staats“(IS).

„Chemical Ali“

Im Jänner 2010 wurde Ali Hassan al-Majid, Cousin und „Prokonsul“Saddam Husseins, für die Verbrechen von Halabja gehängt. Im Prozess hatte er die Tat als Teil des Kampfes gegen „iranische Agenten“bezeichnet. Neben mehreren Höchststra­fen im Zusammenha­ng mit den Anfal-Verbrechen war er auch wegen der Niederschl­agung des Schiitenau­fstands von 1991 im Süden des Irak zum Tode verurteilt worden.

Die Kurden und die Schia: Diese beiden von Saddam verfolgten Gruppen fanden nach 2003 zu einer politische­n Zusammenar­beit. Wie so oft in der Geschichte wurden jedoch die kurdischen Erwartunge­n bald enttäuscht: vom ersten durch Wahlen ins Amt gekommenen Premier Ibrahim al-Jafari, dessen Nachfolger Nuri al-Maliki und schließlic­h den jetzigen Premier Haidar al-Abadi. Er schickte nach dem kurdischen Unabhängig­keitsrefer­endum im Herbst die Armee, um die Kurden aus den „umstritten­en Gebieten“zu vertreiben. Zuvor hatten Peschmerga und Armee gemeinsam den „Islamische­n Staat“bekämpft.

Für die seitdem unter Kuratel gestellte kurdische Region kehrt die Normalität nur langsam zurück. Zwar hat Bagdad endlich der Öffnung der kurdischen Flughäfen für den internatio­nalen Luftverkeh­r zugestimmt. Bei der Verabschie­dung des Budgets strich das irakische Parlament aber soeben die den Kurden seit 2005 zustehende 17-Prozent-Quote.

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Auch für junge Leute ist das Leiden der irakischen Kurden unter Saddam Hussein sehr präsent. Das Verhältnis zu Bagdad bleibt auch 13 Jahre nach seinem Sturz schwierig.

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